„Das ist absolut inakzeptabel“, sagt Alex Rhys-Taylor bestimmt, „das ist unser Zuhause und keine Ware.“ Wenn der junge Akademiker aus dem Fenster blickt, sieht er im Hinterhof seine Nachbarn – vor allem Frauen, die Wäsche aufhängen und deren Kinder herumtoben. Dahinter ragen über 200 Meter hohe Türme aus Glas und Stahl empor, unter anderem die gläserne Front eines Wolkenkratzers, den die Londoner wegen seiner ovalen Form „The Gherkin“ nennen: die Gurke.

Von der vierstöckigen Wohnhaussiedlung aus rotem Backstein, in der Alex mit seiner Familie seit zehn Jahren wohnt, sind es nur wenige Gehminuten zum Finanzdistrikt der Londoner City, wo die Häuser hoch und die Mieten astronomisch sind – wie auch in anderen Teilen von Inner London. Im vergangenen Jahr wechselte am berühmten Hyde Park ein 1.500-Quadratmeter-Penthouse für die Rekordsumme von etwa 170 Millionen Euro den Besitzer.

Alex hat nicht viel Geld und ist auf eine niedrige Miete angewiesen – wie die jungen Familien oder die Rentner, die in den Sozialwohnungen leben, aus denen die Siedlung zum großen Teil besteht. Viele der Menschen hier haben Wurzeln in der indischen Provinz Bengal. „Als wir hierhergezogen sind, gab es in Spitalfields nur Secondhand-Flohmärkte und billige Basare“, erzählt Alex. Aber das ist schon lange vorbei.

In den vergangenen Jahrzehnten wurden in England massiv Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut, stattdessen setzte die Regierung vor allem auf den Finanzsektor. So wurde London neben New York zur weltweit wichtigsten Finanzmetropole und zum Tummelplatz wohlhabender Banker – mit entsprechend überhöhten Immobilienpreisen. Heruntergekommene Gegenden, in denen früher Künstler ihre Ateliers hatten und sich auch Menschen mit kleineren Gehältern eine Wohnung leisten konnten, wurden nach und nach von Besser­verdienenden entdeckt – wie Shoreditch oder Hackney, wo schicke Boutiquen und Coffeeshops die alteingesessenen Bewohner an die Ränder der Stadt gedrängt haben. Ein Prozess, den man Gentrifizierung nennt und der in vielen Großstädten zu beobachten ist, aber in kaum einer Metropole so ­rigoros von der Stadt selbst betrieben wird und das Stadtbild so massiv verändert wie in London.

Die Städte sanieren ihre Kassen – und verkaufen ihre Bewohner

Vor gut einem Jahr lag schließlich in Alex’ Briefkasten eine Nachricht der Wohnungsgesellschaft. Seine Siedlung soll abgerissen und durch einen Hochhauskomplex ersetzt werden. „Es scheint, als säßen wir inzwischen auf dem wahrscheinlich wertvollsten Land, das unser Bezirk besitzt“, sagt der junge Familienvater, der an der University of London urbane Soziologie lehrt.

Tatsächlich ist der Verkauf öffentlicher Ländereien und Immobilien nicht nur in England ein beliebtes Mittel, um die Kassen der Rathäuser zu füllen, die durch Steuersenkungen oder Wirtschaftskrisen häufig recht leer sind. Auch in deutschen Städten wurden etliche städtische Gebäude und Grundstücke privatisiert, sodass bezahlbarer Wohnraum oft schwer zu finden ist. Allerdings sind die Summen, um die es in London geht, ungleich höher, und es ist nur allzu verlockend für die Stadt, immer neue Bauplätze zu finden, für die Investoren ­viele Millionen hinlegen.

Oft lässt sich Boris Johnson, Londons strubbeliger Bürgermeister, mit gewinnendem Lächeln als Herr der Glitzermetropole feiern. Erst im vergangenen Jahr eröffnete ein 160-Meter-Büroturm, der wegen seiner Plumpheit von den Londonern spöttisch „Walkie-Talkie“ genannt wird und dessen gläserne, konkave Fassade die Sonne dermaßen bündelt, dass auf dem Bürgersteig gegenüber die Plastikstühle schmolzen.

Inzwischen fehlen in London jährlich über hunderttausend Wohnungen

Dabei hat der soziale Wohnungsbau in Englands Hauptstadt eine große Tradition. Als die Trümmer der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Häuser weggeräumt waren, klafften überall Lücken. Die Bezirksverwaltungen – die sogenannten Councils – verstaatlichten sie, um dort bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Menschen konnten die Wohnungen dann sogar – meist als Erbpacht – kaufen. Egal ob im nun reichen Kensington oder im bisher noch recht ärmlichen Tower Hamlets, überall gab es Wohnsiedlungen, die sich in öffentlicher Hand befanden. Doch diese sogenannten Council Estates wurden nach Jahren der Vernachlässigung plötzlich begehrte Objekte in einer Stadt, deren Einwohnerzahl seit 2000 von ca. 7,2 auf über 8,5 Millionen gestiegen ist – als wäre ganz München in dieser Zeit hinzugezogen. Inzwischen fehlen in London jährlich über hunderttausend Wohnungen.

Die Antwort darauf heißt seit geraumer Zeit: bauen, bauen, bauen nach dem Konzept der „Regeneration“ (Wiederbelebung). Die Idee dahinter: Der Council verkauft Grund­stücke und Gebäude an private, multinationale Baukonzerne. Diese helfen im Gegenzug, Schulen und öffentliche Parks zu sanieren, oder sie verpflichten sich, eine bestimmte Anzahl von Sozialwohnungen zu bauen. Im Idealfall profitieren davon alle: Die Stadt bekommt Geld für den Erhalt der Infrastruktur, die alten, häufig baufälligen Häuser werden durch neue ersetzt, in denen auch ärmere Menschen Platz finden. Allerdings sind die wenigen Sozialwohnungen oft nur ein Feigenblatt für das Profitstreben der Unternehmen.

Bereits beim ersten großen Regenerationsprojekt zeigte sich, dass es nicht darum geht, Wohnraum für Londoner zu schaffen: Die Plattenbausiedlung Heygate im Süden Londons umfasste rund 1.200 Wohnungen – in Häusern, die allmählich verfielen. Da der Bezirk kein Geld für die Sanierung hatte, verkaufte er das Objekt um die Jahrtausendwende an das australische Unternehmen Lend Lease. Schon damals protestierten die Anwohner und verweigerten den Auszug. Den Council kostete allein der Kampf um die Räumungen letztlich 60 Millionen Euro: Wohnungen wurden den Anwohnern abgekauft, es folgte deren Umsiedlung. Manche zogen an den Stadtrand oder in andere große Städte wie Manchester. Es gab sogar Fälle, in denen Familien jahrelang in einem Bed and Breakfast lebten. 2011 wurde begonnen, die Häuser der Heygate-Siedlung abzureißen – über zehn Jahre nach dem Beginn der Maßnahme.

Heute werben Plakate an der Baustelle für das Regenerationsprojekt. „Werde Teil davon“ lautet der Werbespruch von Lend Lease. Doch die ehemaligen Bewohner von Heygate sind damit wohl nicht gemeint. Im „Elephant Park“, wie Heygate nach der Fertigstellung heißen wird, kostet eine Ein-Zimmer-Wohnung bis zu eine halbe Million Euro. Und während im alten Heygate fast nur ­Sozialwohnungen existierten, sind in den neuen Apartmentblöcken gerade einmal vier Prozent dafür vorgesehen – und selbst die werden versteckt, um die reichere Klientel nicht durch arme Nachbarn zu verschrecken. So gibt es in einem Apartmenthaus mit dem Namen „One Commercial Street“ zwei Eingänge: einen mit Pförtner und mattem Glas an der Vorderseite, einen anderen in einer Seitenstraße – für die Bewohner der billigen Apartments.

Doch es ist nicht nur die Stadt, die mit dem Handel von Immobilien gern verdient. Angesichts der exorbitanten Preise werden auch manche Wohnungsinhaber schwach, die die städtischen Wohnungen einst günstig erwerben konnten. In der Nähe von Covent Garden wurde gerade eine Drei-Zimmer-Wohnung, die 1990 noch 130.000 Pfund gekostet hatte, für 1,2 Millionen Pfund verkauft – ein Wertzuwachs von 800 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit Land in der Größe von 140 Fußballfeldern in der Millionenmetropole privatisiert wird. Den Wohnungen von rund 170.000 Menschen droht der Abriss.

Die Verdrängung trifft längst nicht bloß die Armen

Allmählich wird die Kritik immer lauter – an einer Stadtregierung, die lieber an eine neue, wohlhabende Klientel aus Saudi-Arabien oder Russland als an die alteingesessene Bevölkerung denkt, die ganze Viertel an Bauunternehmen verhökert und die Milieumischung zugunsten einer Monokultur von Neureichen aufgibt. Dabei sind es längst nicht nur die Armen, die auf die Straße gehen, sondern auch die bürgerliche Mitte – Menschen, die im Jahr über 100.000 Euro verdienen und zuweilen dennoch in kleinen Apartments mit wenig Licht wohnen müssen.

An einem sonnigen Samstag macht Alex, mit Megafon und Warnweste ausgestattet, eine Führung durch sein Viertel und zeigt, wie es sich verändert hat. „Der Wohnblock eines Jungen in meiner Klasse sollte regeneriert werden, und Mutter, Sohn und Tochter mussten in ein Bed and Breakfast ziehen“, berichtet eine Lehrerin. Andere erzählen sich, dass auf der Warteliste für Sozialwohnungen im Bezirk mittlerweile über 20.000 Namen stünden. Doch man spricht auch über Beispiele für eine gelungene Wiederbelebung alter Wohnviertel – so wie in der ehemaligen Arbeitersiedlung Woodberry Down im Nordosten Londons. Dort setzt das Bauunternehmen Berkeley Homes bis 2031 insgesamt 5.500 Wohnungen an die Stelle von alten bezirkseigenen Plattenbauten, 1.088 davon Sozialwohnungen, 1.177 zumindest erschwinglicher Wohnraum.

Obwohl es dort keine „Armentüren“ geben wird, werden wohl nicht viele Kontakte zwischen den ärmeren Lon­donern und ihren reichen Nachbarn entstehen. Mehr als die Hälfte der Ein- bis Drei-Zimmer-Apartments wurden nämlich als Investitionsobjekte an Kunden im Ausland verkauft. Und etliche davon sind, wenn überhaupt, nur für ein paar Wochenenden im Jahr in London.

Fotos:  Dan Kitwood/Getty Images