„All in or nothing“ – so lautete der Werbeslogan von Adidas für die Fußball-WM 2014, schließlich traten beide Finalisten mit Adidas-Fußballschuhen gegen den Ball mit dem Namen „Brazuca“, der ebenfalls vom deutschen Sportartikelkonzern geliefert wurde.

Die Frage „All in or nothing?“ hatte rechtzeitig vor Beginn der WM die Umweltschutzorganisation Greenpeace auf ihre Art beantwortet. „All in“ lautete ihr Fazit, nachdem sie 33 Fußballschuhe und Torwarthandschuhe aus den WM-Kollektionen von Adidas, Nike und Puma auf giftige Chemikalien untersucht hatte. Fast alle dieser Sportartikel waren mit Nonylphenolethoxylaten (NPE) oder mit per- und polyfluorierten Chemikalien (PFC) belastet. Manche dieser Substanzen wirken laut Greenpeace wie Hormone, andere begünstigen Krebs oder verseuchen das Wasser in den Produktionsländern.

Der untersuchte Adidas-Fußballschuh „Predator“ etwa, den Fußball-Weltmeister Mesut Özil auf riesigen Werbeplakaten trug, enthält 14,5 Mikrogramm pro Quadratmeter der zu den umweltschädlichen und bioakkumulativen (sich im Körper anreichernden) PFC gehörenden Perfluoroctansäure (PFOA) – das ist fast das 14-fache des Grenzwertes, den Adidas selbst intern für seine Produkte festgelegt hat. Sogar im „Brazuca“-Ball steckten pro Kilogramm 20 Milligramm Nonylphenolethoxylate.

Es ist nicht auszuschließen, dass die gefundenen Konzentrationen eine Folge von technisch bedingten Verunreinigungen sind, weil etwa die Maschinen zwischen der Herstellung von Produkten unterschiedlicher Produzenten nicht gereinigt wurden. So erklären zumindest Adidas, Nike und Puma die Testergebnisse von Greenpeace und verweisen darauf, dass sie bestimmte Chemikalien gar nicht einsetzen und bei anderen Stoffen die Grenzwerte strikt einhalten würden. Adidas sicherte ferner zu, dass 90 Prozent aller ihrer weltweit vertriebenen Produkte frei von PFC sind. Außerdem verpflichtete sich der Konzern, die Anzahl der PFC-freien Produkte bis Ende 2017 auf 99 Prozent zu steigern; bis 2020 sollen alle Produkte sauber sein.

Egal ob Sportartikel, Möbel, Spielzeuge, Heimwerkerprodukte, Fahrzeuge …

Doch die Greenpeace-Studie ist kein Einzelfall. Werden Alltagsprodukte auf chemische Inhaltsstoffe untersucht, sind die Ergebnisse immer wieder gleich erschreckend. Ob Haushaltswaren, Sportartikel, Möbel, Spielzeug, Heimwerkerprodukte, Elektro- und Elektronikgeräte, Fahrzeuge oder Verpackungen – jeder Kauf solcher Produkte scheint heute ein Gesundheitsrisiko einzuschließen.

Ein wenig Abhilfe immerhin gibt es inzwischen: Seit Juni vergangenen Jahres kann man im Internet auf einer Informationsseite des Umweltbundesamtes eine Verbraucheranfrage stellen, um herauszufinden, ob in einem von europäischen Unternehmen hergestellten oder vertriebenen Alltagsprodukt als besonders besorgniserregend registrierte Chemikalien enthalten sind oder nicht. Für Spontankäufe eignet sich diese Auskunftsmöglichkeit allerdings nicht – der Hersteller hat nämlich 45 Tage Zeit, um auf die Anfrage zu antworten.

Dennoch ist die Auskunftspflicht der Hersteller ein großer Fortschritt für die Verbraucher, betont Eva Becker, Chemieexpertin im Umweltbundesamt. „Es ist das erste Mal, dass es eine solche Möglichkeit gibt“, sagt sie. „Man kann die Verbraucher nur ermutigen, das zu nutzen, weil man auf diese Weise auch Hersteller und Händler dafür sensibilisiert, mehr Sorgfalt auf Herstellung und Auswahl ihrer Produkte zu legen.“ Tatsächlich ist die Resonanz auf die Auskunftspflicht bislang recht gut. Nach dem Einrichten des Onlineformulars im Juni letzten Jahres gingen in den ersten sechs Monaten rund 5.000 Produktanfragen über das Formular an Hersteller und Importeure.

Die Auskunftspflicht der Unternehmen ist das für die Verbraucher bislang sichtbarste Ergebnis einer kleinen Revolution, die sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Rede ist von REACH, der 2007 in Kraft getretenen Europäischen Chemikalienverordnung. REACH steht dabei für „Regulation Concerning the Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals“, also die Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Erstmals ist damit das bis dato in eine Vielzahl von europäischen Richtlinien und Verordnungen wie auch nationale Rechtsvorschriften zersplitterte Chemikalienrecht in einem in ganz Europa unmittelbar geltenden Regelwerk zusammengefasst worden.

REACH ist eines der strengsten Chemikaliengesetze der Welt

Es ist ein Jahrhundertvorhaben, das die Europäische Union der Industrie abgerungen hat. Auch wenn Kritiker monieren, dass die Lobbyverbände der Wirtschaft den ursprünglich rigiden Ansatz der Verordnung stark verwässert haben, gilt REACH inzwischen dennoch als eines der strengsten Chemikaliengesetze der Welt.

Ursprünglich sollte REACH mehr als 100.000 Chemikalien ins Visier nehmen, die seit Jahrzehnten in unseren Industriegesellschaften produziert werden und in unzähligen Alltagsprodukten enthalten sind. In der Erarbeitungsphase des Programms hat man sich aber schließlich auf die gebräuchlichsten rund 30.000 Substanzen beschränkt. Über viele ältere dieser Chemikalien, die zum Beispiel auch in Textilien, Möbeln, Kosmetika oder Spielzeug zu finden sind, lagen bis dahin keine oder nur unzureichende Informationen vor. Denn vor 1981 mussten neue Substanzen vor ihrer Markteinführung nicht auf mögliche Umwelt- und Gesundheitsgefahren getestet werden.

Diese Informationslücken will REACH stopfen. Betroffen von dem Regelwerk sind dabei nicht nur Großkonzerne der chemischen Industrie, sondern auch Importeure von Chemikalien und Tausende von mittleren und kleinen Unternehmen wie Textilfabrikanten, Malerbetriebe, Bauhandwerker und chemischen Reinigungen in ganz Europa.

Und so existiert im Gebäude der ECHA (European Chemicals Agency) in Helsinki mittlerweile die größte Chemiedatenbank der Welt. Schon in der 2008 erfolgten Vorregistrierungsphase hatten rund 40.000 Unternehmen aus der EU, darunter allein über 6.700 Firmen aus Deutschland, alle chemischen Substanzen angezeigt, die sie produzieren oder anwenden.

Nach dieser ersten großen Inventur begann 2009 die eigentliche Registrierung jener Chemikalien, die in Mengen von mehr als einer Tonne jährlich hergestellt oder importiert werden. Dieser mehrstufige Prozess ist teilweise noch im Gange und wird erst 2018 vollständig abgeschlossen sein. Im Zuge der Registrierung müssen Hersteller, Lieferanten und Anwender jeweils Menge, Zusammensetzung und Gefährlichkeit der von ihnen in größerem Umfang benutzten Chemikalien angeben. Diese Daten werden von der ECHA verwaltet und teilweise geprüft.

Die Unternehmen fürchten um ihren Wettbewerbsvorteil

Auf große Gegenliebe bei Unternehmern und Lobbyverbänden stieß die Registrierungspflicht allerdings nicht. Zum einen, weil der bürokratische Aufwand für die Anmeldung der Chemikalien recht hoch ist. Zum anderen aber auch aus Sorge vor der Konkurrenz: Viele Unternehmen fürchten, durch zu viel Offenheit Mitbewerbern Hinweise auf die gut gehüteten Rezepturen für ihre Produkte zu geben.

Parallel zu dieser Registrierung erarbeiten die ECHA und die EU-Mitgliedsländer eine Liste von „besonders besorgniserregenden Stoffen“, den sogenannten SVHC (Substances of Very High Concern). Diese Verbindungen stehen zum Beispiel im Verdacht, krebserregend zu sein, die Umwelt oder das Erbgut zu schädigen. Vorschläge darüber, welche Stoffe auf diese Liste gelangen, können von der ECHA oder den EU-Mitgliedsstaaten eingebracht werden.

Die Stoffe, die nach der Entscheidung des Ausschusses der Mitgliedsstaaten auf die SVHC-Listegesetzt werden, unterliegen einem generellen Verwendungsverbot. Kann ein Unternehmen allerdings nachweisen, dass die Risiken der Chemikalie beherrscht werden oder dass der sozioökonomische Nutzen der Verwendung größer ist als das Risiko, dann kann die EU-Kommission eine Zulassungsgenehmigung erteilen. Derzeit enthält die im Internet veröffentlichte Liste der „besonders besorgniserregenden Stoffe“ insgesamt 155 Substanzen. Viel zu wenig, wie Greenpeace, der WWF und andere Umweltverbände kritisieren. „Wir wissen heute schon von einigen hundert Chemikalien, dass sie hochgefährlich sind“, sagt eine WWF-Sprecherin.

Auch wissenschaftliche Studien machen deutlich, wie weit REACH von ihrem erklärten Ziel eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit und die Umwelt noch entfernt ist. So warnten erst kürzlich führende Neurologen in einem von der Fachzeitschrift „The Lancet Neurology“ veröffentlichten Appell vor einer „lautlosen Epidemie“ von Hirnentwicklungsstörungen bei Kindern, die durch Chemikalien in Alltagsgegenständen verursacht werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würden mehr Stoffe als bisher bekannt wie Nervengifte wirken, weil die giftigen Auswirkungen von Zehntausenden Industriechemikalien auf Fötus und Kind nie geprüft worden seien.