„Die Türkei gehört zu Europa“, rief Walter Hallstein, ehemaliger Staatssekretär des Auswärtigen Amts, anlässlich eines Besuchs in Ankara und ließ die begeisterten Hörer wissen: „Eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein.“

Im kommenden September ist es genau 50 Jahre her, dass mit diesen Worten die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Türkei mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gefeiert wurde – und niemand ahnte, dass die Floskel „eines Tages“ auch ein halbes Jahrhundert später noch passen würde – vielleicht sogar viel besser. Denn während es damals beiden Seiten mit dem Miteinander ernst war, ist das heute nicht mehr so sicher. Will die Türkei überhaupt noch in die EU? Wollen die anderen Länder das? Fest steht nur: Die Türkei ist schon seit Langem offizieller Beitrittskandidat der EU. Aber weitere Verhandlungen sind wegen eines Streits um den Status von Zypern auf Eis gelegt. Die Mittelmeerinsel ist seit dem türkisch-griechischen Konflikt 1974 geteilt, eine Annäherung gibt es dort kaum.

Doch nicht nur Zypern steht einer weiteren Annäherung im Weg: In ihrem neuesten Fortschrittsbericht kritisiert die EU, dass die Menschenrechtslage in der Türkei auf einem bedenklichen Niveau stagniere. So waren nach Angaben der türkischen Nachrichten-Website Bianet zu Jahresbeginn 68 Journalisten in der Türkei inhaftiert. Außerdem ließen die Behörden vor nicht allzu langer Zeit willkürlich Intellektuelle wie den Verleger Ragip Zarakolu und die Professorin Büsra Ersanli wegen angeblicher Unterstützung einer „illegalen Organisation“ verhaften.

Allerdings ist die Haltung der EU alles andere als konsequent: Während lautstark Menschenrechte eingefordert werden, arbeitet man in der Flüchtlingspolitik zusammen. Als Nachbarland von Griechenland, Syrien, dem Irak und Iran ist die Türkei in den letzten Jahren zum wichtigsten Transitland für Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten geworden: 2010 überquerten schätzungsweise fast 50.000 Menschen die griechisch-türkische Grenze, um in Europa Asyl zu beantragen. Angesichts der rigorosen Abschottungspolitik bleiben die Flüchtlinge aber immer häufiger in Istanbul hängen – ohne Unterkunft und Aussicht auf Arbeit. Da die Türkei nichteuropäischen Flüchtlingen kein Asyl gewährt, droht den meisten die Abschiebung. Unklar ist auch die Zukunft Tausender Iraner, die nach der fehlgeschlagenen Revolution gegen das Regime 2010 aus dem Land flohen, weil ihnen Folter und Gefängnis drohten – und die nun in türkischen Satellitenstädten auf Asyl in Deutschland oder anderen EU-Staaten hoffen. In den meisten Fällen vergebens, obwohl viele Regierungschefs die Demokratiebewegung damals wortmächtig unterstützten.

Auf türkischer Seite wiederum scheint die EU kein Sehnsuchtsort mehr zu sein – auch wenn der türkische Ministerpräsident Erdogan über seinen EU-Minister verkünden lässt, dass ein Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft weiterhin höchste Priorität hat. Zu sehr liebäugelt man mit dem Aufstieg zur starken Nation inmitten einer wirtschaftlich und politisch fragilen Weltregion. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht – angesichts des langjährigen Wirtschaftsbooms, der sich unter anderem an immer waghalsigeren Bauprojekten in Istanbul zeigt.

Das neue Selbst- und Sendungsbewusstsein der Türkei bekommen auch die Staaten Nordafrikas zu spüren, die sich nach den Demokratiebewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings um einen Neuanfang bemühen. Den Ägyptern empfahl Erdogan ein islamisch-demokratisches Staatsmodell – nach dem Vorbild der Türkei. Tatsächlich ist die Verbindung von Islam und Moderne, auf die sich Erdogans Partei AKP gerne beruft, zumindest in virtueller Hinsicht bereits ein Exportschlager: Rund 150 zumeist kitschige Fernsehserien zeigen das liberale Istanbuler Großstadtleben, aber auch historischen Stoff aus den Zeiten der Sultane. Sie werden bis nach Saudi-Arabien, Griechenland, Bosnien und Serbien ausgestrahlt. Bei der eigenen Bevölkerung kommt besonders die Rückbesinnung auf das mächtige Osmanische Reich gut an, gleichzeitig sinkt in der Bevölkerung die Begeisterung für einen Beitritt in die krisengeschüttelte EU. Aber einig sind sich auch die Türken nicht: Es gibt historisch gewachsene Gräben zwischen Linken und Rechten, zwischen Türken und Kurden, Nationalisten und Liberalen, Religiösen und Weltlichen.

Das gibt Protest: Kopftücher erlaubt, Abtreibungen verboten

Auch bei diesen inneren Konflikten macht die Türkei gleichzeitig Fort- und Rückschritte. So wird inzwischen offen über den Völkermord an den Armeniern diskutiert, der sich 2015 zum hundertsten Mal jährt. Auf der anderen Seite wurde der armenische Journalist Hrant Dink 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen. Im Mordprozess wurde 2012 einer von insgesamt 19 Angeklagten verurteilt. Hinweisen auf die Hintermänner der Tat im Sicherheitsapparat ging das Gericht nicht nach. Immerhin stehen nun neue Ermittlungen an.

Im Kurdenkonflikt bahnt sich sogar zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei eine friedliche Lösung an. 40.000 Menschen kamen in den letzten Jahrzehnten im Osten der Türkei durch den Konflikt ums Leben. Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in den Nachbarländern Syrien und Irak mit ihren großen kurdischen Minderheiten ist die Türkei gezwungen, mit der militanten Kurdenorganisation PKK zu verhandeln. Zudem werden die Antiterrorgesetze teilweise gelockert, auch wenn Menschenrechtlern viele der Reformen nicht weit genug gehen. Zum ersten Mal seit der Gründung der türkischen Republik wird sogar an manchen Universitäten Kurdisch unterrichtet; zahlreiche neue Sachbücher zur „Kurdenfrage“ füllen die Regale in den Buchläden.

Verbessert wurde das Klima auch durch den Beschluss der Regierungspartei AKP, Kurden nicht mehr wie früher als „Bergtürken“, sondern als islamische Glaubensbrüder zu betrachten. Die Religion wird im öffentlichen Leben des eigentlich streng säkularen Landes immer wichtiger. Das Kopftuchverbot an Universitäten wurde bereits ausgesetzt und fällt bald vermutlich auch für Lehrerinnen. Das Militär, das sich stets als Hüter der Trennung von Kirche und Staat begriff, wurde in den letzten Jahren von der Regierung weitgehend entmachtet. Kritiker von Erdogan fürchten eine weitere Islamisierung des Landes. Anfang des Jahres wurde der Komponist und Pianist Fazil Say von einem Istanbuler Gericht wegen „Herabsetzung religiöser Werte“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Später wurde das Urteil wegen Verfahrensfehlern aufgehoben – vorerst.

Dass die Zivilgesellschaft immer wieder zwei Schritte nach vorne macht – und die Regierung einen Schritt zurück –, geht vielen Bürgern gegen den Strich. Ende Mai dieses Jahres entzündete sich an einem Bauprojekt in einem Park am Taksim-Platz im hippen Bezirk Beyoglu ein Protest, der in den Medien bereits als „türkischer Frühling“ bezeichnet wurde. Tausende machten ihrem Ärger über das als autoritär empfundene Regime Luft – und als die Polizei mit Gewalt antwortete, wurde der Protest nur umso größer. Auch wenn die Türkei nicht in der EU ist – viele ihrer Bürger wollen genau die Freiheit, die dort herrscht.