Das „Brockhaus’ Konversations-Lexikon“ von 1894 ist ein gewaltiges Nachschlagewerk, in dem sich das ganze Wissen der Welt in 16 Bänden versammelt. Das Wort „Sexualität“ findet sich nicht darin. Unter „Geschlechtstrieb“ aber ist dort zu lesen, dass es „der innige Trieb“ sei, „welcher die Fortpflanzung und Erhaltung der Art durch Erzeugung neuer Individuen vermittelst geschlechtlicher Vereinigung erstrebt, tritt bei den Tieren nur periodisch, während der sog. Brunftzeiten ein, wogegen er beim Menschen nicht an bestimmte Zeiten gebunden ist und daher stets unter der Herrschaft der sittlichen Kraft und der Vernunft stehen soll. Über die Verirrungen des G. siehe > Onanie > Päderastie > Unzucht.“

Vom „innigen Trieb“, „Unzucht“ und „Verirrungen“ ist heute nicht mehr die Rede, dennoch gilt sexuelle Aufklärung weiterhin als ein heißes Eisen, das immer wieder neu geschmiedet werden muss – von staatlichen Institutionen wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), von Lehrern und Eltern. Die neigen öfter mal dazu, das umfangreiche und manchmal nicht unpeinliche Thema an die Schulen weiterzugeben – wobei die verschiedenen kulturell oder religiös geprägten Richtlinien folgen. Ziel ist aber immer die sogenannte Handlungskompetenz der jungen Erwachsenen in sozialer, praktischer, ethischer und gesundheitlicher Hinsicht. Sie sollen also lernen, was in puncto Sex zu tun und zu lassen ist. Weil aber Bildung in Deutschland Ländersache ist, geht hier jedes Land einen anderen Weg.

So dürfen etwa die Kinder in bayerischen Grundschulen nicht einmal aufschreiben oder malen, was ihnen in Sexualkunde beigebracht wird, um „Stimulation oder Verängstigung“ zu vermeiden, wie es im Lehrplan heißt. In Berlin dagegen wird neuerdings sogar ein „Aufklärungskoffer“ im Unterricht verwendet – mit Anschauungsmaterial wie Kondomen, einem Penis aus Holz oder einer Vagina aus Plüsch. Auch Themen wie Homo- oder Transsexualität bleiben nicht ausgeklammert. Generell sollten Schulkinder spätestens ab der 7. Klasse mit dem Thema vertraut gemacht werden, und zwar nicht nur für eine oder zwei Unterrichtsstunden. Bei besonders heiklen Themen wird die Aufhebung der Koedukation empfohlen und die Klasse nach Geschlechtern geteilt. Auch ist Sexualaufklärung längst nicht mehr nur an „Bio“ gekettet, sondern wird als „ein fächerübergreifend zu unterrichtendes Thema“ verstanden, zu dem auch andere Fächer wie Chemie, Religion und Deutsch etwas beizutragen haben.

Im „Aufklärungskoffer“: Penis aus Holz, Vagina aus Plüsch

Manche Lehrerinnen und Lehrer kommen aber auch zu dem Thema wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind – so wie Susanne Ehrhardt*, die an einer Waldorfschule in Mecklenburg-Vorpommern die Klassen 6 und 7 unterrichtet. Auf einem Elternabend, erzählt Ehrhardt, kam die Frage auf, wie es mit der Aufklärung sei, und da hat sie sich „einfach in der Pflicht“ gefühlt. Auf dem Lehrplan stand das Thema erst später. Ehrhardt stellte sich, gewappnet nur mit einem biologischen Nachschlagewerk aus dem Duden Schulbuchverlag, den Fragen ihrer 13-jährigen Schüler und Schülerinnen: „Das geschah indirekt, im Rahmen eines Projekts. Wir hatten die Organe durchgenommen, Auge, Ohr, Lunge, Verdauung, und ich dachte: In diesen Zusammenhang passt das gut. Die Kinder haben ihre Fragen auf anonymen Zetteln eingereicht und nur ihr Geschlecht angegeben. Danach habe ich versucht, die Fragen zu beantworten, und wir haben gemeinsam darüber gesprochen.“ Um irgendwelche Praktiken ging es dabei nicht: „Es waren sehr kindliche Fragen, vor allem nach Verhütung und Krankheiten.“ Weil die Lehrerin nicht Biologie studiert hat, musste sie sich bei manchen Fragen Rat von Experten einholen: „Aids beispielsweise ist ein sehr weites Feld, zu dem sich besser Fachleute äußern.“ Das war allerdings schwerer als gedacht. Das örtliche Pro-Familia-Büro (Pro Familia ist der größte Verband zu Fragen von Sexualität und Partnerschaft) fühlte sich auf die Schnelle nicht zuständig, aber „in der Frauenklinik gibt es eine sehr nette Ärztin, mit der wir dann noch mal eine gesonderte Veranstaltung zum Thema gemacht haben“.

Dass das nicht immer so ist, weiß Eckhard Schroll von der BZgA. Mit der Websitewww.loveline.de betreibt die BZgA eine umfangreiche Plattform für seriöse Informationen rund um das Thema und legte schon mehrfach Studien zur „Jugendsexualität“ vor, die regelmäßig mit Klischees zum Thema aufräumen (siehe auch Interview Seite 5). Für die jüngste Studie 2010 wurden 3.542 Mädchen und Jungen zwischen 14 und 17 befragt, und ein Großteil hielt sich selbst für allgemein und ausreichend aufgeklärt. „Sexualität ist ein Kulturgut, nicht nur ein biologisches Gut.“ Neben den Eltern und der Schule nennt Schroll als „Aufklärer“ auch noch die „Peergroup“, also den Freundeskreis.

Bücher hingegen siedeln oft auf dem schmalen Grat zwischen Information und Voyeurismus. Wie auch „Make Love“, eine aktuelle Erscheinung, die vom Kultursender 3sat als „mit Abstand bestes Aufklärungsbuch seit den 70er-Jahren“ bejubelt wurde. Hier haben die Autorinnen schlechterdings alles zum Thema versammelt, von Verführung bis Abtreibung, von Streicheltipps („wie hundert Schmetterlinge, die kurz landen“) bis zum angeblichen Szenejargon für bestimmte Oralsexpraktiken. Die weichgezeichneten Fotos zeigen „ganz normale junge Menschen“ nicht nur beim Liebesspiel, sondern auch bei hartem Sex – freilich in leicht verklärter Indie-Ästhetik, an die uns Magazine wie „Jetzt“ oder „Neon“ gewöhnt haben.

Eckhard Schroll mag sich zu solchen „kommerziellen Angeboten“ gar nicht äußern, gibt aber allgemein zu bedenken: „Jeder hat sein eigenes Timing, seine eigene Entwicklung, seinen eigenen Rhythmus. Wir wissen: Ein Drittel der Jugendlichen hat, wenn sie erwachsen werden, überhaupt noch keine sexuelle Erfahrung. Und wenn ich dann sehe oder lese, was ich alles tun muss, welche Erfahrungen ich schon gemacht haben müsste, dann setzt das natürlich alle unter Druck, die einfach noch keine Sexualität haben. Und das ist aus sexualwissenschaftlicher Sicht vollkommen kontraproduktiv. Denn sie dürfen ja selber ihren Zeitpunkt bestimmen – nicht die Medien und auch nicht wir.“

Überhaupt scheint es heute keineswegs mehr die einzige Aufgabe der Aufklärung zu sein, Halbwissen in Wissen zu verwandeln. Bei Jungen geht es vor allem darum, ihnen den Erwartungsdruck zu nehmen, perfekte Liebhaber sein zu müssen. Und Mädchen wird vermittelt, dass es für ihre Rolle als Frau unerheblich ist, ob sie nun früher oder später den ersten Sex haben. Generell gilt, so Schroll: „Wir wollen den Druck der Jugendgruppe nehmen, dass alle schon Sex gehabt haben müssen.“ Auch wohlmeinende Publikationen zum Thema hätten stets eine Kehrseite: „Immer wenn man darüber berichtet, haben Jugendliche das Gefühl: Das ist ja normal, mit 16 habe ich bestimmt schon fünf Partner gehabt und kenne alle Sexualpraktiken in- und auswendig.“

Ist Aufklärung heute also vor allem eine Beschwichtigungsübung? Nicht nur. Aktuell bleiben Fragen zur Schwangerschaftsverhütung und zur Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Überraschende Lücken hat Schroll bei solchen Menschen ausgemacht, von denen man meinen möchte, dass sie doch alles darüber wüssten: „Manche müssen auch aufgeklärt werden, weil sie mit 14 oder 15 ihren Partner oder ihre Partnerin des Lebens gefunden haben und nun mit 36 dastehen, weil das leider zerbrochen ist. Wie war das noch mal, wie lerne ich jemanden kennen, was muss ich beachten? Ehepartner, die sich seit dem 18. Lebensjahr um Themen wie Familienplanung gar nicht mehr gekümmert haben, fragen nach der Trennung: Was ist jetzt neu, auch im Hinblick auf Verhütung? Weil das in der Partnerschaft geklärt war. Und plötzlich ist alles wieder radikal offen.“ Und dann macht man sich erneut auf die Suche nach jemandem, der einen aufklären kann. Mit Magazinen, Ratgebern oder Online-Plattformen sollte man sich dabei nicht zu lange aufhalten. Denn Aufklärung ist wie die Sexualität selbst – dann am besten, wenn ein anderer Mensch im Spiel ist.

* Name geändert