Thema – Russland

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Der Sowieso-Präsident

Dass Putin die russischen Wahlen wieder gewinnt, gilt als ausgemacht. Der populärste Gegenkandidat ist gesperrt, die restliche Opposition tief gespalten. Und dann gibt es da noch Manipulationsvorwürfe. Aus einem Land, durch das ein Riss geht

Wahlhelfer

Die Präsidentenwahl steht an in Russland, überall hängen Plakate, die Kandidaten werben um die Gunst der Wähler: so weit, so normal. Aber zwei ältere Frauen an einer Bushaltestelle in Sankt Petersburg deuten amüsiert auf ein riesiges Banner mit dem Konterfei von Wladimir Putin. Tatkräftig lächelt er auf die Zarenstadt hinunter, erinnert an den Wahltermin am 18. März und verspricht „Ein starkes Russland!“. 

Eine der beiden Frauen sagt: „Guck mal. Wie er da aussieht! Als wäre er so ein Politiker.“ Die andere lächelt zustimmend. Nun wurde Wladimir Putin schon vieles vorgeworfen, aber selbst seine härtesten Kritiker würden wohl bestätigen, dass er von Beruf Politiker ist. Also, werte Damen, was ist Putin denn in Ihren Augen? „Na, er ist doch der Präsident!“

Kaum ein Russe zweifelt daran, dass an der Staatsspitze auch nach der Wahl alles so bleiben wird, wie es ist. Seit 1999 ist Wladimir Putin der starke Mann Russlands, als Präsident oder Ministerpräsident. In diesem Jahr werden also die ersten Russen volljährig, die nie einen anderen Politiker an der Staatsspitze gesehen haben. Die wichtigsten TV-Kanäle sind ebenso fest in Staatshand wie die großen Unternehmen. Die sogenannte „Vertikale der Macht“, also die Kontrolle über alle Bereiche und föderalen Ebenen des Staates, ist Putins Getreuen lange gesichert. In Umfragen erreicht er stabil 60 bis 80 Prozent, die anderen Kandidaten bleiben einstellig. Und das ist wohl auch der Grund, warum es auf die ältere Dame so skurril wirkt, wenn Wladimir Putin sich auf Wahlplakaten in die Riege der Kandidaten einreiht – ganz so als wäre er nur einer von vielen.

Die Debatte, an der Putin nicht teilnahm, ging in Schreien und Getöse unter

Anders als auf Plakatwänden hebt sich Putin im Staatsfernsehen mehr als deutlich von den anderen Kandidaten ab, das illustrieren zwei landesweit übertragene Ereignisse aus den ersten Märztagen. Putin hielt da seine „Rede an die Nation“, sprach zwei Stunden lang vor mehr als 1.000 Parlamentariern und anderen russischen Würdenträgern, versprach die Armut zu halbieren, präsentierte neue Raketen und drohte dem Westen, die russische Entschlossenheit nicht auf die Probe zu stellen. Ein Auftritt, wie er für Putin nicht ungewöhnlich ist. 

 

Seine besondere Wirkung entfaltete er im Kontrast zu dem anderen großen Fernsehereignis von Anfang März, der TV-Debatte der anderen Präsidentschaftskandidaten. Diese Debatte, an der Putin nicht teilnahm, ging in Schreien und Getöse unter. Rechtspopulist Wladimir Schirinowski, seit einem Vierteljahrhundert Russlands oberster Politprovokateur, überzog vor allem die demokratisch-liberale Kandidatin Ksenia Sobtschak mit wüsten Beschimpfungen, sie übergoss ihn daraufhin mit Wasser. Argumente kamen in der Debatte eher weniger vor. Also, liebes russisches Wahlvolk: Hier Staatsmann Putin, dort die oppositionelle Chaostruppe. Wen hätten Sie denn gerne?

Putin darf einen hohen Stimmenanteil erwarten – laut Kritikern aber nur durch Manipulation

Viele westliche Beobachter sehen den Zustand des politischen Systems Russlands kritisch und bezweifeln, ob es noch demokratisch zu nennen ist. Sabine Fischer, Russland-Expertin der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, sagt sogar, dass es sich bei der Wahl de facto „eher um ein Referendum“ handeln würde. Die politische Führung kann nicht wirklich abgewählt werden, aber dank des Urnengangs könne sie sehen, wie beliebt sie aktuell bei den Menschen ist, und nötigenfalls nachjustieren – hier eine kleine Rentenerhöhung, dort ein paar patriotische Parolen.

Maßgebend sei diesmal die von Moskau ausgegebene „70/70-Formel“. Das Ziel von Putin ist eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent – und ein ebenso hoher eigener Stimmenanteil. „Die meisten kritischen Analysten gehen davon aus, dass dieses Ziel nur durch Manipulation zu erreichen ist“, sagt Fischer. Sie verweist auch darauf, dass die bedeutendste Manipulation in Russland lange vor dem Wahltag stattfinde. Gemeint sind beanspruchte administrative Ressourcen, etwa wenn Regierungsvertreter öffentliche Gelder für sich ausgeben oder wenn sie Beamte ihre Wahlflyer verteilen lassen.

Ist Gegenkandidatin Sobtschak nur ein vom Kreml entzündetes liberales Lichtlein?

Zurück nach Sankt Petersburg. Auch in der zweitgrößten russischen Stadt unterhält Ksenia Sobtschak ein Büro. Sie ist die aufsehenerregendste Kandidatin dieses Wahlkampfs, was viele Gründe hat. Als 36-jährige Frau sticht sie in der Riege der überwiegend älteren Herren ohnehin hervor. Sobtschak verfügt als ehemaliges It-Girl und spätere Journalistin beim kremlkritischen TV-Sender Doschd über einen für russische Politiker ungewöhnlichen Werdegang. Zudem ist sie die Tochter von Anatoli Sobtschak, dem ehemaligen Bürgermeister von Sankt Petersburg und politischen Ziehvater von Wladimir Putin. Auch deshalb hängt über ihrer Kandidatur wie ein Damoklesschwert der von vielen Kritikern gehegte Verdacht, Sobtschak sei nur ein vom Kreml entzündetes liberales Lichtlein, das bis zur Wahl kurz leuchten darf, um anschließend im Dunkeln zu verschwinden. Sie soll stabilisierend auf Putins inszenierte Demokratie wirken, da sie demokratisch und freiheitlich eingestellten Russen das Gefühl vermittelt, eine Option zu haben – so der im Westen ebenso wie in Russland vielfach geäußerte Vorwurf. 

Im Petersburger Wahlbüro von Sobtschak empfängt Anton Gorbatsevich, einer der vielen jungen Russen, die trotz der möglichen Kreml-Nähe seit Wochen für die liberale Kandidatin arbeiten. Der 29-Jährige ist studierter Jurist, trägt Jeans und einen grauen Pullunder, seine Augenringe sind nicht zu übersehen. „Ja, das geht schon an die Substanz“, sagt er über den Wahlkampf. Er nippt an seinem Kaffee, zeigt das Werbematerial der „Kandidatin gegen alle!“, wie Sobtschak sich selbst bezeichnet. Zu dem großen Dilemma ihrer Kandidatur sagt Gorbatsevich: „Wenn sie ein Kreml-Projekt sein sollte, dann ist es ausnahmsweise ein gutes.“ Durch ihre Präsenz würden freiheitlich-demokratische Positionen wie der Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben endlich ins Staatsfernsehen gelangen. „Wie ihre Kandidatur zu bewerten sein wird, hängt nicht vom Ergebnis ab“, sagt Gorbatsevich. „Sondern davon, ob sie danach weitermacht, darauf aufbaut, sich für kommende Wahlen positioniert.“ 

Nawalny wurde die Kandidatur verwehrt – nun ruft er seine Anhänger zum Wahlboykott auf

Ein offizielles Wahlziel der Kampagne gebe es nicht, erklärt Gorbatsevich, aber er persönlich wünsche sich einen der ersten drei Plätze für die Kandidatin. Um die beiden „Medaillenränge“ hinter Putin kandidiert Sobtschak vor allem gegen zwei Männer, die politisch nicht weiter von ihr entfernt sein könnten. Neben Ultranationalist und passioniertem Pöbler Schirinowski gilt der für die Kommunisten antretende Pawel Grudinin, bis dato Leiter einer Sowchose und erklärter Bewunderer des früheren Sowjet-Diktators Josef Stalin, als aussichtsreichster Kandidat. 

Es gibt da natürlich noch einen weiteren Politiker, der sehr gerne angetreten wäre, der aber nicht durfte. Dem populären Juristen, Blogger und Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalny war eine Kandidatur von der Zentralen Wahlkommission untersagt worden, da er wegen Unterschlagung und Veruntreuung zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war. Nawalny selbst betrachtet den Prozess gegen sich als politisch motiviert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt Urteile der russichen Gerichtshöfe gegen den Oppositionellen gerügt. Zuletzt bezeichnete der EGMR ein Urteil wegen Geldwäsche zum Nachteil des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher als willkürlich. Nawalny hat seine Anhänger nun zum Wahlboykott aufgerufen. 

 

Davon hält Anton Gorbatsevich nichts: „Ich unterstütze Nawalnys politische Ansichten, aber nicht seinen Boykottaufruf. So etwas hat noch nie positive Auswirkungen gehabt. Wenn wirklich 80 Prozent der Russen wählen würden, wäre es für den Kreml schwer, Wahlfälschung zu betreiben.“ Durch die Meinungsverschiedenheiten über die Kandidatur von Sobtschak und den Ausschluss von Nawalny ist die russische demokratisch-liberale Opposition tief gespalten. Während Nawalny Sobtschak ebenso wie andere Kandidaten öffentlich beschuldigt, die für die Wahlzulassung nötigen Unterschriften gefälscht zu haben, und alles daransetzt, dem Urnengang jegliche Legitimation abzusprechen, trommelt Sobtschak kräftig weiter für sich und damit für die Wahl. 

Der Westen schaut auf Russlands Außenpolitik. Die russischen Bürger haben andere Sorgen

Der Politologe Alexander Kynew schreibt in einer Wahlanalyse für „Republic“, dass Nawalny immerhin versuche, eine potentielle Mehrheit der Russen zu mobilisieren, während Sobtschak nur „eine ultraliberale Minderheit“ anspreche. Damit meint der Experte, dass Nawalny sich auf den Kampf gegen die Korruption und für soziale Gerechtigkeit konzentriere, zwei für die breiten Bevölkerungsschichten wirklich wichtige Themen. Sobtschak aber stehe für ein breites Themenspektrum, das von besserer AIDS-Prävention bis zu einem neuen Referendum über den Status der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim reiche. All das seien aber Themen, die im Alltag der meisten Russen eine untergeordnete Rolle spielen.

Was die reellen Sorgen der russischen Bürger sind, lässt sich nur schwer beurteilen, aber anhand von Umfragen und persönlichen Gesprächen immerhin eingrenzen. Tatsächlich fällt dabei eine große und erwartbare Diskrepanz auf: Im Westen wird vor allem die russische Außenpolitik wahrgenommen, in Russland selbst dreht sich das meiste um die Innenpolitik. 

Bauarbeiter, die unweit des neuen Fußballstadions von Sankt Petersburg eine Straße ausbessern, wollen mehrheitlich, dass die politischen Verhältnisse erhalten bleiben. Aleksander, der 31 Jahre ist und aus „einem sibirischen Dorf“ stammt, wie er selbst sagt, reibt sich seine fast steif gefrorenen Finger an seiner Weste und sagt: „Die aktuelle Regierung hat ja schon alles, die haben genug geklaut. Wenn eine neue Regierung kommt, dann klauen die erst mal wieder. Wir haben nichts davon.“ 

Schön wäre, wenn die Löhne mal pünktlicher gezahlt würden

Zynische Kommentare wie dieser sind in Russland häufiger mal zu hören in letzter Zeit. Wichtiger als ein Machtwechsel wäre ihm, so erklärt Aleksander noch, dass die Löhne mal pünktlicher gezahlt werden. Während er das sagt, sind hinter ihm die Umrisse des für die Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2018 erbauten Stadions erkennbar, das mehr als 800 Millionen Euro gekostet hat. 

Wohin Russland nach der Wahl langfristig steuert, ist im Gegensatz zu ihrem Ausgang unklar. Denn hinter den politischen Konfliktlinien steht auch ein kultureller Konflikt, der noch lange über den Tag der Abstimmung hinaus schwelen dürfte. Kürzlich wurde er anhand eines heiß diskutierten Vorfalls in der zentralrussischen Stadt Uljanowsk sehr deutlich. Pilotenschüler parodierten das Musikvideo zu „Satisfaction“, tanzten in Pilotenmützen und Unterhosen und stellten das Video online. Es ging viral. Ein Sturm der Entrüstung brach los, vor allem konservative Meinungsführer überboten sich mit Forderungen nach Strafen für die jungen Männer, die ihre Flugschule entehrt hätten. 

Dieser Vorfall zeigt exemplarisch, wo die Bruchstellen der gegenwärtigen russischen Gesellschaft zu finden sind. Andrej Archangelskij hat diesen Fall auf der Internet-Platform „The Insider“ für eine Analyse der russischen Gesellschaft genutzt: „Auf der einen Seite ist da die ‚Satisfaction‘-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.“ 

Als Reaktion auf die geforderte Bestrafung der Flugschüler gab es aber auch eine landesweite Welle der Solidarität mit den jungen Männern. Sportler, Rentner, Beamte und viele weitere Gruppen drehten das Video nach und stellten es online. Auch wenn diese „Welt der Freiheit“ am 18. März politisch mal wieder verlieren wird, kann auch sie in Russland eine Zukunft haben.

Mehr zu Russland gibt es im Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung und natürlich hier auf fluter.de

Titelbild: MAXIM SHIPENKOV/AFP/Getty Images

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