Frau Krebs, Politiker scheinen „Gleichheit“ als Zauberformel zu sehen – ob bei 
Bildungschancen,Lebensbedingungen oder Arbeitslosengeld. Zu Recht? 


Gleichheit ist ein Hurra-Wort. Es wird heute in der Politik tatsächlich alles in die Gleichheitsterminologie verpackt. Man kann das verstehen, Politiker müssen die Bürger erreichen. Weil Gleichheit ein so abstrakter Begriff ist, kann man auch alles darin verpacken. Oft ist es jedoch wirklich nur eine Verpackung, bloße Rhetorik. Eine gerechte Gesellschaft kann man nicht auf Gleichheit aufbauen. 

Sondern? 

Im Zentrum müssen Menschenwürde und Verteilungsgerechtigkeit stehen. 

Was bedeutet dann Gleichheit überhaupt? 

Gleichheit ist die Ununterscheidbarkeit oder Identität von mindestens zwei Dingen in einer bestimmten Hinsicht. Wichtig beim Gleichheitsbegriff ist, dass man immer die Hinsicht angibt, in der wir zwei oder mehrere Dinge als gleich beurteilen. 

Sind eineiige Zwillinge gleich? 

Sagt man nur: Eineiige Zwillinge sind gleich, ist das nicht zu verstehen. Gleich klug? Gleich schön? Gleich reich? Eine Hinsicht wäre bei eineiigen Zwillingen zum Beispiel das äußere Erscheinungsbild. Da gibt es Gleichheit. 

Das klingt einfach.

So weit gibt es auch noch kein Problem mit der Gleichheit. Spannend wird es, wenn wir nach Gerechtigkeit fragen.Da sagen die einen: Eine gerechte Gesellschaft ist eine, die Gleichheit zwischen den Menschen in einer bestimmten Hinsicht anstrebt. In der Philosophie sind das die Egalitaristen. 

Gleichheit in welcher Hinsicht? 

Die typische Antwort der Egalitaristen ist: Freiheit. Denn die Menschen wüssten selbst am besten, wie sie glücklich werden. Eine gerechte Gesellschaft sei eine,die allen Menschen gleichermaßen die Freiheit gibt zu leben, wie sie es möchten. Gerechtigkeit verlange gleiche Lebensaussichten auf ein glückliches Leben für alle. 

Aber jeder kann immer noch selbst entscheiden, wie er leben möchte? 

Ja, deswegen: Freiheit. Die Hinsicht ist die Freiheit und nicht irgendeine Vorstellung,wie die Menschen zu leben haben. Den Egalitaristen kann man also nicht vorwerfen,dass es ihnen um Gleichmacherei geht, dass alle grüne Anzüge tragen oder in der Stadt leben müssen. Zudem sollen nach egalitaristischer Ansicht nicht nur alle die gleiche Freiheit genießen, sondern auch möglichst viel Freiheit. Denn gar keine Freiheit für alle, das wäre ja auch eine Form von Gleichheit. Schließlich ergänzen die Egalitaristen noch: Wenn wir manchen Menschen, sehr talentierten etwa, doch mehr Ressourcen als Anreiz dafür geben, dass sie ihre Talente für das Gemeinwohl einsetzen, steigt das Lebensniveau eines jeden. Gewisse Abstriche an Gleichheit sind daher im Egalitarismus durchaus vorgesehen. 

Kann man sich das bildlich vorstellen? 

Könnte man die Lebensaussichten der Menschen mit Waagen abwiegen, würde der Egalitarismus mit einer Balkenwaage operieren. Diese Waage müsste dann möglichst gerade sein,wenn man die Lebensaussichten verschiedener Menschen misst. Im Egalitarismus kommt es darauf an, wie der eine im Vergleich zum anderen abschneidet – das ist die eine Idee der Gleichheit. 

Dem kann man doch nur zustimmen!

Die Non-Egalitaristen, zu denen ich mich zähle, sehen das anders. Wir denken, dass Gleichheit nicht diesen Stellenwert hat. Bei Gerechtigkeit geht es im Wesentlichen darum, allen Menschen in einer Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ein Leben, das eine bestimmte Schwelle des guten Lebens erreicht. Also etwa, dass niemand in materieller Armut leben muss, dass keiner sozial ausgeschlossen, stigmatisiert wird, dass alle die Chance haben zu persönlichen Beziehungen und zu privater wie politischer Autonomie. Diese Schwelle markieren wir mit dem Begriff der Menschenwürde oder der Inklusion oder der Bürgerschaft. Oberhalb dieses Niveaus mag es Ungleichheiten geben, sogar große. Aus der Perspektive der Gerechtigkeit sind diese Ungleichheiten aber nicht unbedingt zu beanstanden.

Und welche Waage wäre dann Ihre?

Bei den Non-Egalitaristen könnte dies eine digitale Küchenwaage sein, bei der es einen roten und einen grünen Bereich gibt. Solange jemand im roten Bereich ist – also nicht genug zu essen hat, kein Auto, das er auf dem Land braucht,um flexibel genug für seine Arbeit zu sein, und so weiter –, herrscht Ungerechtigkeit. Sobald aber der Zeiger im grünen Bereich ist und dort verschieden stark ausschlägt, würde ich sagen: So what?

Die Grenze zwischen rotem und grünem Bereich ist die Menschenwürde?

Genau.Im Herzen der Gerechtigkeit steht das menschenwürdige Leben für alle. Meinetwegen kann man dies auch in der Gleichheitsterminologie ausdrücken. Wenn alle genug zu essen haben, sind alle in der Hinsicht gleich, dass sie genug zu essen haben. Aber es kommt auf das Essen an, nicht die Gleichheit!

Ich kann am Egalitarismus noch immer keine Schwäche sehen.

Egalitaristen betrachten alle Ungleichheiten unter dem folgenden Aspekt: Heben sie das Lebensniveau aller oder nicht? Und wenn nicht, müsse man sie nivellieren. Das ist ein ganz anderer Blickwinkel als der non-egalitaristische. Die Egalitaristen sagen nicht: Wenn jeder ein Auto hat, kann einer auch drei haben. Die Egalitaristen zwingen denjenigen, der drei Autos hat, das zu rechtfertigen, obwohl die anderen auch fahren können. Egalitaristen geht es nicht um die Tugend der Gerechtigkeit,sondern um Gier und Neid. So wie bei dem oft zitierten Kuchenbeispiel.

Das Kuchenbeispiel?

Der Egalitarismus arbeitet gern mit dem Kuchenbeispiel, weil er ja irgendwie begründen muss,warum Gleichheit eine so zentrale Rolle spielen soll in der Gerechtigkeit. Es gibt einen Kuchen, am Tisch sitzen die Kinder. Die Egalitaristen behaupten: Die Mutter muss offensichtlich jedem der Kinder ein gleich großes Stück Kuchen geben, dann kann man immer noch überlegen, ob es Ausnahmen gibt, auf die reagiert werden muss: Hat ein Kind mehr Hunger oder den Tisch gedeckt oder Geburtstag? Non-Egalitaristen lehnen das Kuchenbeispiel als irreführend ab. Kinder können von Süßigkeiten nie genug kriegen – was man ihnen, da sie Kinder sind, auch nicht verdenken kann. Gerechtigkeit handelt vorwiegend von der Verteilung von Lebensgütern unter Erwachsenen. Erwachsene wissen oder sollten wissen, wann sie genug haben. Außerdem suggeriert das Kuchenbeispiel eine unterkomplexe Situation. Kinder backen zum Beispiel nicht mit. Es gibt keine vergangenen oder zukünftigen Generationen, die zu berücksichtigen wären, und so weiter.

Aber erst mal ist doch einfach wichtig, dass alle was vom Kuchen haben.

Sicher. Egalitarismus und Non-Egalitarismus können im konkreten Fall zum selben Ergebnis führen: Der Kranke bekommt Medizin, der Arme Brot. Aber für eine Gesellschaft macht es einen Unterschied, ob sich die Politik darauf konzentriert, dass alle die Schwelle des menschenwürdigen Lebens erreichen. Oder ob sie viel Zeit und Ressourcen dafür aufwendet, Ungleichheiten einzuebnen. Reden wir über die Menschenwürde und darüber, was jemand wirklich braucht? Oder darüber, was wir im Vergleich zu anderen haben? Das muss eine Gesellschaft klären. Die Philosophie stellt in diesem Punkt ein gewisses Unterscheidungswissen zur Verfügung.

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass 345 Euro im Monat für ein Leben in Menschenwürde ausreichen.Wie bestimmt man die Grenze zwischen rotem und grünem Bereich?

Es gibt anthropologische Einsichten. Kein Mensch will hungern oder stigmatisiert werden. Konkreter muss man schauen,was man in einem Land wie Deutschland alles benötigt, um nicht ausgeschlossen zu sein. Man muss sich fragen:Braucht man ein Auto,einen Fernseher, eine Tageszeitung, wie groß muss die Wohnung sein,muss sie eine Dusche haben etc.?

Kann man die Schwelle der Menschenwürde beliebig herabsetzen, wenn sich die Gesamtsituation verschlechtert?

Es gibt durchaus einen gewissen Spielraum bei der materiellen Bestimmung der Schwelle. Mitunter ist der Gürtel tatsächlich enger zu schnallen.Die materielle Ebene wird aber überlagert von der immateriellen Ebene. Die entscheidende Frage lautet hier: Zählt man noch als volles Mitglied der Gesellschaft, wenn man keinen schwarzen Anzug für eine Beerdigung hat? Oder sich als Schülerin keine Markenjeans leisten kann?

Was ist mit der Arbeitslosigkeit?

Das Hauptproblem mit der Arbeitslosigkeit ist der soziale Ausschluss der Arbeitslosen in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die Anerkennung oder soziale Zugehörigkeit über Arbeit vermittelt. Wenn Millionen von Menschen gar nicht die Chance haben zu arbeiten, ist dies ein moralischer Skandal. Damit befinden wir uns im roten Bereich.

Wo ist der Millionär, der keine sozialen Kontakte hat? Roter Bereich? Grün? 

Gerechtigkeit verlangt nur, dass wir allen den Zugang zu einer bestimmten Schwelle des guten Lebens eröffnen. Der Millionär könnte sich ja bemühen, ein netter Mensch zu sein, und so Freunde oder einen Liebespartner finden. Solange er die Möglichkeit dazu hat, gibt es kein Gerechtigkeitsproblem. Also grün.

Gehen wir noch ein paar Beispiele unter dem Aspekt der Gleichheit durch: Behandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz.

Wenn Frauen für die gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlt werden als Männer, haben wir es mit der Verletzung eines bestimmten Gerechtigkeitsstandards zu tun,nämlich dass Menschen nach Leistung zu bezahlen sind, nicht nach Geschlecht. Geschlecht, Hautfarbe und derartige Kriterien sollten für die Entlohnung irrelevant sein. Sie sehen, ich muss hier gar nicht über Gleichheit reden, weil es nicht darum geht,dass die Leistung der einen an der Leistung des anderen gemessen wird. Ein anderer Punkt kommt hinzu: Angesichts der Geschichte der Frauendiskriminierung ist auch heute noch mit ungleicher Entlohnung das Signal verbunden, dass Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Dies wiederum hat mit der Menschenwürde zu tun, mit dem Recht der Frau auf volle gesellschaftliche Zugehörigkeit und nicht mit Gleichheit.

Sind Frauenquoten dann sinnvoll?

Wie brauchbar Quoten sind, ist eher eine soziopolitische Frage denn eine philosophische. Die Philosophin fragt: Gehört es zur Menschenwürde, nicht diskriminiert zu werden, und warum? Welche anderen Gerechtigkeitsstandards werden durch Diskriminierung verletzt? Sitzt eine Diskriminierung in einer Gesellschaft so tief, dass man für ihre Bekämpfung zu radikalen Maßnahmen greifen muss, dann können, für eine gewisse Zeit, Quoten gerechtfertigt sein. Aber kein Non-Egalitarist hat ein ungebrochenes Verhältnis zu Quoten. Denn es ist gerecht, dass sich Leistung auszahlt, nicht etwas anderes. Mit Quoten verunreinigen wir den Gerechtigkeitsstandard, der sagt: Es geht nur nach Leistung.

Weiter: Managergehälter im Vergleich zum Durchschnittsangestelltenlohn.

Neben den Kriterien des menschenwürdigen Lebens gibt es noch ein komplexes Netz von Verteilungskriterien,etwa das Leistungskriterium oder das Kriterium der Kompensation für besonders unangenehme Arbeit. Man muss sich fragen: Ist die Leistung eines Managers so viel größer? Muss er für seinen besonderen Stress Kompensation bekommen? Diese Fragen gehören in die Wirtschaftsethik. Was soll der Markt,was kann er? Wie bringt man Moral und Markt zusammen? Vor naiver Moralisierung und allzu einfachen Antworten muss man sich hier hüten.

Zum Dritten: Muss das Arbeitslosengeld im Westen und Osten gleich hoch sein?

Man kann das wollen, weil man gegen Diskriminierung ist und findet, dass ein signifikanter Unterschied im Arbeitslosengeld einen Status zweiter Klasse für die Menschen im Osten markiert. Auf der anderen Seite steht die größere Kaufkraft eines Euro im Osten. Man muss also beide Seiten prüfen und abwägen. Konkrete Beispiele werfen uns in eine komplexe Argumentationslandschaft. Sobald man diese Komplexität berücksichtigt, verlieren einfache Lösungen nach dem Motto „Gleichheit“ ihre Schlagkraft.

Werden sich Egalitaristen und Non-Egalitaristen auf einen Umgang mit dem Begriff „Gleichheit“ einigen?

Es wird vielleicht noch zehn oder zwanzig Jahre dauern, aber dann wird es argumentativ durchdekliniert sein: dass es der Gerechtigkeit im Kern um Menschenwürde und Verteilungsgerechtigkeit geht. Und dass Gleichheit damit nichts zu tun hat 

Angelika Krebs, 45, ist Professorin für Philosophie an der Universität Basel. Zuletzt erschien von ihr Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit.