Dr.Aktar, wir möchten mit Ihnen über Europa und die Türkei reden.

Gern. Zunächst habe aber ich eine Frage: Wissen Sie, dass Istanbul zusammen mit Essen und Pécs in Ungarn Europäische Kulturhauptstadt 2010 ist?

Ja, haben wir gehört. Warum?

Wenn es um Europa und die Türkei geht, geht es immer auch um die kulturellen Unterschiede. Die Vorbereitung auf 2010 und die Feier als Kulturhauptstadt können ganz Europa zeigen, dass Istanbul und die ganze Türkei kulturell zu Europa gehören – aber sie auch viel mehr sind als allein europäisch!

Wohin gehört die Türkei am Ende: zu Europa oder zu Asien? 

Sie ist ein sehr kompliziertes Land, wenn es um eine solche Definition geht. Niemand fragt, ob Bulgarien oder Lettland europäisch sind, nicht mal bei Zypern stellt jemand diese Frage. Ich wundere mich, warum das so ist.

Dann anders gefragt: Fühlen sich die Türken als Europäer oder als Asiaten?

Sie fühlen beides und mehr als das! Sie fühlen sich mediterran, europäisch, islamisch, dem Nahen Osten zugehörig, dem Osten allgemein. Wenn jemand sagt, die Türken seien Europäer: Glauben Sie ihm nicht! Wenn jemand kommt und sagt, die Türken seien Muslime: Glauben Sie ihm genauso wenig!

Bei so vielen Gefühlen: Wie denken die Türken dann über eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union?

Es gibt im Wesentlichen zwei Richtungen. Ein paar sagen: Ob wir die Kriterien erfüllen oder nicht, wir werden sowieso aufgenommen, weil die EU uns braucht. Unseren Markt, unsere Jugend, unsere geostrategische Lage, uns als muslimische Demokratie. 

Und was sagen die anderen? 

Die sagen: Wir möchten gern in die EU – aber sie wird uns nicht nehmen. Vor ein paar Jahren hatte der zweite Teil des Satzes noch keine so große Bedeutung. Aber seit die Türkei Ende 2004 den Status eines Beitrittskandidaten bekam, zeigt sich, dass die Zweifel der türkischen Öffentlichkeit sehr realistisch sind.

Die letzten Meinungsumfragen in der Türkei sagen, dass weniger als 50 Prozent der Türken in die EU möchten und nur noch 35 Prozent der EU vertrauen.

1999/2000 wollten noch 85 Prozent in die EU! Der Anteil der Leute, die neutral sind, ist ebenfalls gestiegen, auf 26 Prozent. Wenn ich das kurz verallgemeinern darf, sieht es heute so aus: Die Europäer wollen die Türkei nicht in der EU und die Türken glauben nicht mehr an das Projekt EU-Beitritt.

Warum haben die Türken das Vertrauen in den EU-Prozess verloren? 

Auf die Türken wirkte die EU in den letzten sechs Jahren wie eine Person mit einem Prügelstock, die der Türkei systematisch vorschreibt, was sie zu tun hat. Reformen vorschreibt, die auch wir, die Intellektuellen, die Akademiker, die Bürgergesellschaft fordern. Die letzte Regierung genau wie die derzeitige haben die Anforderungen erfüllt – gut so! Und die Leute waren froh darüber. Das Problem ist: Die Reformen waren tatsächlich revolutionär für die Türkei. Aber gleichzeitig muss sich auch die türkische Mentalität ändern – und das ist nicht geschehen. Am Ende laufen wir Gefahr, dass all die Reformen nur auf dem Papier existieren.

Welche Reformen meinen Sie?

Vor allem die, die mit der Meinungs- und Redefreiheit zu tun haben. Die sind natürlich nicht gegen die türkische Einheit oder Identität gerichtet, sie nutzen den Menschen! Aber diese Reformen wurden von den türkischen Nationalisten missbraucht, indem diese sagten: Das sind gefährliche Reformen, die spielen den Separatisten, vor allem den Kurden, in die Hände und sie ermutigen dazu, immer mehr zu fordern,um sich am Ende von der Türkei abzuspalten. Das Schlimmste in einem Reformprozess ist es, wenn demokratische Reformen nur halbherzig umgesetzt werden. Dann bringen sie nur die Hälfte von dem, was man von ihnen erwartet, aber sie geben den Gegnern Argumente an die Hand.

Wer sind diese Gegner?

Das geht von der extremen Rechten bis zur extremen Linken. Menschen, die sehr lokal denken, die immer noch glauben, dass die Türkei niemanden braucht, dass sie sich allein weiterentwickeln sollte. Das erinnert an Albanien und Nordkorea in den Siebzigerjahren und ist vollkommener Unsinn. 

Und diese Gegner können den türkischen EU-Beitritt sozusagen sabotieren? 

Nein. Die sind gar nicht das Problem.

Wer denn dann? 

Nicht, was nationalistische Elemente der Gesellschaft denken, ist problematisch, sondern das, was die Regierung, die bürgerliche Gesellschaft und die Elite der Türkei tun, um die Menschen besser über den Nutzen der Reformen und des türkischen EU-Prozesses zu informieren. Da fehlen Wille,Mühe und Mittel. Seit fast zwei Jahren hat die Regierung alle Bemühungen in Richtung EU einfach eingestellt. Ich und sechs oder sieben andere Leute, die wissen, wie wichtig der Prozess ist, wir können das nicht auffangen. Die türkischen Medien sind nicht interessiert an der EU. Im Fernsehen gibt es nur noch eine Sendung über die EU – und von der ist nicht klar, ob sie fortgesetzt wird. In den Zeitungen gibt es kaum Nachrichten über die EU. Wenn es also keinen starken politischen Willen gibt, wird es nicht funktionieren.

Was sollte passieren?

Die Menschen müssen den Sinn und die Vorteile all dieser Reformen erklärt bekommen. Ein Beispiel: Die Türkei hat eine Zollunion mit der EU. Das bedeutet,dass die Türkei und die EU Güter untereinander im- und exportieren, zollfrei. Diese Zollunion hat der türkischen Industrie immense Vorteile gebracht. Nicht zuletzt, weil sie, um nach Europa exportieren zu dürfen, die EU-Standards erfüllen mussten, bei Autos, Kühlschränken, wo auch immer. Diese Anforderungen kommen selbstverständlich auch den türkischen Konsumenten enorm zugute. Es hat sich nur niemand die Mühe gemacht, den Türken das klarzumachen. Das Gegenteil ist geschehen: Nationalisten haben das Wort ergriffen und erklärt, diese und andere mit der EU verbundenen Reformen seien gegen die Türkei gerichtet und würden die Einheit, die Lebensart, die Grundfesten der Türkei gefährden. Gleichzeitig hat der Mann auf der Straße wenig von handfesten Vorteilen der EU gespürt, ganz anders als die Menschen in früheren Beitrittskandidatenstaaten. Dort waren die EU-Institutionen sehr präsent, mit großen Projekten, bedeutenden Krediten und Subventionen. In der Türkei: fast nichts. Ich habe gesagt,die EU wirke hier wie ein Stock – aber an seinem Ende baumelt keine Karotte!

Also ein Fehler der EU?

Ich verfolge die EU-Erweiterung schon seit mehr als 15 Jahren und der Prozess der türkischen EU-Mitgliedschaft ist wahrscheinlich der schlechteste, den ich je gesehen habe. Ich habe nie einen Prozess gesehen, in dem die EU-Institutionen, mit Ausnahme der EU-Kommission, so kühl geblieben sind. Ich kann Ihnen genau sagen, welche EU-Staaten aktiv eingebunden sind in die türkischen Beitrittsvorbereitungen: die Niederlande und Schweden. Und Deutschland durch die Heinrich-Böll-, die Konrad-Adenauer- oder die Friedrich-Ebert-Stiftung. Es müssen ja nicht alle EU-Staaten immer aktiv die türkische Mitgliedschaft fördern – aber nur drei? Das ist einfach nicht genug.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus? 

Der türkische Prozess scheint für niemanden wirklich von ernsthaftem Interesse zu sein. Niemand ist heiß darauf. Vielleicht hofft man, dass der türkische Beitrittsprozess einfach irgendwann abbricht. Einfriert. Vielleicht möchten sie ihn sanft töten. 

Wer sind „sie“? 

Ich nenne sie die „Koalition der Unwilligen“: unwillige Politiker in der Türkei und in den EU-Staaten. Zusammen ziehen sie den ganzen Prozess runter. Es ist zudem sehr unglücklich für die Türkei, dass die Beitrittsvorbereitungen in einer Zeit stattfinden, in der Europa nach seiner Seele sucht, in einer immer komplizierteren politischen Weltlage, nachdem die Verfassung gescheitert ist und die neuen Mitgliedsstaaten hinzugekommen sind. Niemand empfindet die Freude von 1989, als die Gespräche mit den ersten sechs Kandidaten wie Estland und Tschechien begannen. Das macht es nicht nur für die Türkei schwieriger, sondern auch zum Beispiel für Bulgarien und Rumänien, die am 1. Januar 2007 zur EU kommen sollen – es gibt keinen Enthusiasmus mehr. 

Sie sagen, die Regierung habe die Reformen eingestellt. Warum? 

Manche meinen, dass die Regierung nie wirklich an die EU und die von der EU inspirierten Reformen geglaubt und nur damit gespielt hat,um die Macht der Armee zu beschränken. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Andere glauben, dass die Regierung der Bevölkerung nicht noch mehr EU-motivierte Reformen zumuten möchte und dafür die Gewinne der beginnenden Verhandlungen für die nächsten Wahlen nutzen will. Und nach den gewonnenen Wahlen im November 2007 werden sie weitersehen. Das ist auch eher meine Meinung. 

Dann wäre zwar Zeit verloren, das Ziel des EU-Beitritts würde die Regierung aber doch erreichen. 

Am meisten Sorgen macht mir, dass die türkische Regierung die EU-Beziehungen und die Vorbereitungen der Gespräche als außenpolitische Angelegenheit betrachtet und noch dazu als eine weitere unter vielen außenpolitischen Angelegenheiten und Möglichkeiten. Von allen Fehlern ist das wahrscheinlich der größte Fehler. Denn die EU ist keine außenpolitische Angelegenheit: Wenn man den Führerschein nach den in Brüssel vereinbarten Regeln ändert, hat das doch mit Außenpolitik nichts zu tun. Und die EU ist keine Möglichkeit unter vielen anderen Möglichkeiten. Wir haben keine Alternative! 

Es wird von einer Achse China–Russland–Türkei gesprochen oder einer Hinwendung zur arabischen Welt. 

Das undemokratische Russland, der totalitäre Iran, der chaotische Nahe Osten? Wollen wir das für unsere Kinder? Natürlich nicht. 

Am Anfang unseres Gesprächs ging es um die Kulturhauptstadt Istanbul und die damit verbundene Chance zu beweisen,dass kulturelle Unterschiede gar keine unüberwindliche Hürde darstellen. Glauben Sie das wirklich? 

Es behauptet doch niemand, dass die Türkei zu 100 Prozent europäisch sei oder europäische Kultur habe. Aber solange die Debatte unter diesen Vorzeichen geführt wird, sind wir verloren. Denn dann werden wir immer weiter darüber diskutieren, ob wir kulturell oder religiös oder irgendwie anders europäisch sind oder nicht. Die EU ist ein Projekt, ein Prozess,der sich ständig weiterentwickelt. Wie schon Karl Marx sagte: Wie ein Fahrrad – wenn es anhält, fällt es um. Jacques Delors, der ehemalige Kommissionspräsident, hat das wiederholt. Ein Projekt, das wachsen wird, das wirklich eine Weltmacht wird, neben China, Indien und den USA. Dieses Projekt wird die Türkei lenken, genau wie die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien. Wir sollten auf die Dynamiken dieses Projektes blicken und uns auf das türkische Potenzial konzentrieren, sich zu verändern und gleichzeitig eigene Werte einzubringen. 

Welche Werte könnten das sein? 

Damit meine ich nicht islamische Werte! Aber jeder Deutsche weiß, wie die Türken sind: Sie mögen die Menschen, sprechen mit Kindern, sind offen, gelassen, der Individualismus ist noch nicht das zentrale Element in der Gesellschaft – alles Werte, die in Europa ein wenig verloren gegangen sind. 

In Deutschland spielt Kinderliebe gerade eine geringere Rolle als die latente Angst vor Muslimen. 

Auch der türkische Islam verändert sich. All die Staaten, die kürzlich beigetreten sind, verändern sich. Die Leute auf der ganzen Welt werden sagen können: Schau, die EU, was für ein tolles Projekt – es kann sogar ein muslimisches Land wie die Türkei aufnehmen und integrieren unter dem Dach der gemeinsamen politischen Werte wie Recht, Gesetz, Demokratie. Das wäre eine hervorragende Botschaft an die Welt und vor allem an diese Region der Mittelmeeranrainer und des Nahen Ostens. Stellen Sie sich eine Türkei vor, die dank der Dynamik des EU-Projekts wirtschaftlich und politisch stabil ist – das würde eine große Anziehungskraft ausüben in der Region. Und es ist bereits so: Die arabischen Nachbarn investieren in der Türkei, weil sie es zu schätzen wissen, dass die Türkei immer stabiler und zuverlässiger wird. Die investieren hier doch nicht, weil sie Muslime sind und die Türkei ein muslimisches Land ist. Sie kommen, weil die Türkei europäisch wird. 

Eine andere Sorge: zu viele arbeitssuchende türkische Zuwanderer. 

Die Türken werden nicht ihre Häuser auf den Rücken schnallen und nach Europa reisen und dort wieder aufstellen. Warum sollten sie das tun? Ein Türke, der dank der durch die EU angestoßenen Entwicklung zum Beispiel Arbeit in Antalya findet – warum sollte der die Türkei verlassen, um in Hamburg die Straßen zu kehren, wo es dauernd regnet? Die Türkei kann ohne Probleme 100 Millionen Menschen ernähren. Und denken Sie doch bitte an die Tschechische Republik! 

Warum das denn? 

Für Tschechen hat Deutschland eine Quote eingeführt. Diese Quote wird nur zu 18 Prozent erfüllt. Die Tschechen kommen nicht! Warum sollten sie auch? Sie sind zufrieden, dort wo sie jetzt leben. In der Migrationsforschung gibt es eine goldene Regel, die lautet: Menschen emigrieren niemals aus Spaß. Sie verlassen den Ort, an dem sie geboren wurden, nur wenn sie bedroht werden, wenn sie unter schwierigen wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen zu leiden haben. Sonst nicht. Deshalb kann es nur ein Ziel geben: die Kandidatenländer fit dafür zu machen, ihren Bürgern ein gutes Leben dort zu ermöglichen, wo sie jetzt leben. 

Was kann die EU unmittelbar tun, um genau das zu schaffen? 

Die ökologische Landwirtschaft in der Türkei fördern. Türkischer Boden ist vergleichsweise sauber, es gibt eine sehr große Artenvielfalt in diesem Land. Etwa dreißig Prozent der landwirtschaftlichen Produkte der Türkei sind schon heute biologisch, ohne so gekennzeichnet zu sein, weil sich die Bauern die Zertifikate nicht leisten können. Da gibt es ein großes Potenzial, das, wenn es vernünftig entwickelt wird, eine der Lösungen für viele Probleme sein kann. Ökologische Produkte brauchen mehr menschliche Arbeitskraft als konventionelle Landwirtschaft. Sie haben einen großen Mehrwert. Sie sind umweltfreundlich. Sie werden die Bauern auf dem Land halten, statt die Landflucht zu befördern,zuerst in die türkischen Städte, dann ins europäische Ausland. Dieses Potenzial sollte die EU dringend fördern, um auch der türkischen Öffentlichkeit klarzumachen, welche Möglichkeiten dort brachliegen. Vor allem im Osten und Südosten des Landes. 

Was wird in der Türkei als Nächstes geschehen? 

Wie jedes Jahr wird es auch in diesem Herbst einen Zwischenbericht geben. Der wird hart sein, aber realistisch. In der Türkei wird der Bericht einen Schock verursachen. Der Schock wird vom Finanzmarkt ausgehen, wie üblich. Wenn der Finanzmarkt den Zwischenbericht so interpretiert, dass die Türkei von Europa wegdriftet, wird die Kreditwürdigkeit des Landes zurückgestuft werden und das wird unmittelbare Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft haben. Diese Art Schock wird hoffentlich ausreichen, um die Politiker aufzuwecken. Ich fürchte, dieses Land handelt nur, indem es auf Schocks reagiert. 

Wird die Türkei jemals EU-Mitglied? 

Sie sollte. Es ist im Interesse der Türkei. Es ist im Interesse Europas. 

Dr. Cengiz Aktar, 51, leitet das Zentrum für Europastudien an der Bahcesehir-Universität Istanbul. 1999 war er Mitbegründer einer Initiative, die an einer Nominierung Istanbuls als Europäische Kulturhauptstadt arbeitete. 2002 gründete er die „Europabewegung 2002“, die Druck auf die türkische Regierung ausübt, um die für die Beitrittsverhandlungen notwendigen Reformen voranzubringen. Aktar, Kolumnist der Tageszeitung Vatan und der Turkish Daily News, lebt mit seiner Frau und einer Tochter in Istanbul, seine zweite Tochter studiert in Genf.