Ob die Protestbilder aus Griechenland sie and Argentinienkrise vor zehn Jahren erinnern? „Natürlich“, sagt Victoria Engel, „es war schrecklich. Wir waren pleite. Und niemand wusste, wie es weitergeht!“ Die 37-jährige Psychologin sitzt im ersten Stock eines Cafés in der „City“, dem Finanzzentrum von Buenos Aires. Auf der Straße lebendiges Gewusel, die Jacarandá-Bäume auf den Plätzen blühen lila. Argentinien geht es schon lange wieder gut. Das Land hat seit Jahren hohe Wachstumsraten, und die Terms of Trade sind auf einem Hundertjahreshoch. Das bedeutet: Argentinien kann so viele Importgüter für seine Agrarexporte kaufen wie zuletzt vor 100 Jahren. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner führte ein Kindergeld ein, erhöhte die Renten. Sie wurde im Oktober mit absoluter Mehrheit wiedergewählt.

Victoria Engel – randlose Brille, blond, Pagenschnitt, rostfarbenes Häkeloberteil, Smartphone- Nutzerin – zeigt auf die Fassaden der Banken in der Fußgängerzone: „Die haben sich damals verbarrikadiert, mit Metallplatten, Holzplanken. Aus Angst vor den Leuten, vor uns!“ Wenn eine Fabrik pleite ist, werden die Arbeiter entlassen. Aber wenn ein Land bankrott ist, was passiert dann? „Die Menschen versuchen zu überleben“, sagt Victoria und ruft sich den 19. Dezember 2001 ins Gedächtnis. Das Jazzkonzert war gerade vorbei, und in den abklingenden Applaus mischte sich Lärm von draußen, Stimmengewirr und ein metallisches Klopfen. Neugierig gingen Victoria und ihre Freunde auf die Straße und schlossen sich dem Zug der Protestierenden an, die auf Kochtöpfe schlugen und alle in die gleiche Richtung liefen: zur Plaza de Mayo, dem Platz in Buenos Aires, an dem das rosa Regierungsgebäude steht. „Que se vayan todos! Verschwindet alle!“, riefen die Demonstranten den Politikern im Präsidentenpalast zu. An den Straßenecken brannten Autoreifen. Bilder von berittenen Polizisten, die prügelten und wahllos in die Menge schossen, gingen um die Welt. Mehr als zwanzig Menschen starben. Am 20.12.2001 floh Präsident Fernando de la Rúa mit einem Helikopter aus dem Regierungsgebäude. Am 23.12.2001 war Argentinien pleite.

Victoria Engel, damals 27 Jahre alt, war von dem feigen Präsident enttäuscht. Dass sie selbst von der Krise betroffen sein würde, erfuhr sie erst später. 30.000 US-Dollar lagen auf ihrem Bankkonto. Es war das Geld, mit dem Victoria sich einen Traum erfüllen wollte: eine kleine Einzimmerwohnung. Sie hatte das Geld erst wenige Wochen zuvor vom Staat bekommen. Es war eine, wenn auch symbolische, Entschädigung für die Ermordung ihres Vaters unter der letzten Militärdiktatur. Und nun war derselbe Staat, der ihr gerade eine Wiedergutmachung gezahlt hatte, pleite – und erlaubte ihr nicht, das Geld abzuheben und in Sicherheit zu bringen. Victoria hatte auch eine Reise geplant, ein Ticket nach Südafrika war reserviert. „Die Krise hat mir die Flügel abgeschnitten. Ich ging jeden Tag zur Bank, wusste nicht, was ich tun sollte“, erinnert sich die Psychologin. „Die anderen Kunden beschimpften die Angestellten, aber die konnten ja auch nichts dafür.“

„Willkommen im Museum der Auslandsschuld!“ Ignacio Marutian steht vor einer Besuchergruppe im Museo de la Deuda Externa. Damals, in der Diktatur (1976 bis 1983) habe das argentinische Schuldendrama so richtig angefangen, beginnt Ignacio – kurze Haare, graues Hemd, dunkle Hose – die Führung. Der Guide ist eigentlich Soziologe, aber die Idee des Schuldenmuseums begeisterte ihn. „Nur wer die Vergangenheit kennt, begeht den gleichen Fehler nicht zweimal. Dieses Museum ist weltweit einzigartig!“ Dann erklärt Ignacio, wieso die argentinischen Schulden auch nach der Diktatur immer weiter wuchsen. Die Besucher haben Notizblöcke dabei, schreiben mit: Um eine Hyperinflation zu bekämpfen und das Vertrauen ausländischer Anleger und Investoren zu gewinnen, wurde der Peso 1991 an den Dollar gekoppelt – doch um diese Bindung aufrechtzuerhalten, brauchte der Staat Geld. Deregulieren? Privatisieren? Liberalisieren? Argentinien macht alles mit, was der Internationale Währungsfonds verlangte. Die meisten Bürger störte das zunächst nicht weiter, im Gegenteil: Da die Löhne in Dollar ausgezahlt wurden, konnten sie um die Welt reisen, teure Importprodukte kaufen. Präsident Carlos Saúl Menem träumte gar von argentinischen Raumschiffen, die „in die Atmosphäre starten, dann in die Stratosphäre und von dort aus überallhin fliegen, wo wir hinwollen, sodass wir in eineinhalb Stunden von Argentinien aus in Japan, Korea oder wo auch immer sein können.“ Doch das „1 Peso gleich 1 Dollar“- Modell hatte Nachteile: Argentinien war zu teuer, um international wettbewerbsfähig zu sein. Das Land machte immer mehr Schulden.

„Es war wesentlich schlimmer als heute in Griechenland“

Ignacio redet über eine Stunde lang, hinter ihm zeigen Texttafeln im Zeitraffer, was passierte: Verschuldung zur Zeit der Diktatur. Die Illusion des Reichtums auf Pump in den neunziger Jahren. Krise. Auferstehung. Wobei der derzeitige Ausstellungsraum nur ein Ersatzmuseum ist: In den eigentlichen Räumen im Souterrain der Universität Buenos Aires fiel den Organisatoren buchstäblich die Decke auf den Kopf. Nur wenige Ausstellungsgegenstände stehen dort noch, darunter die mit wütenden Protestsprüchen besprühte Metallverkleidung, mit der eine Bank ihre Fassade vor Angriffen schützte. „In den letzten Monaten kommen immer mehr Ausländer, vor allem Portugiesen und Spanier“, sagt Ignacio. „Sie wollen wissen, wie Argentinien es geschafft hat, die Krise zu überwinden.“

Der Mann, der den Karren aus dem Dreck zog, heißt Roberto Lavagna. Als er 2002 den Job als Wirtschaftsminister annahm, war Argentinien pleite. „Alle meine Freunde rieten mir ab“, sagt Lavagna, silbergraue Haare, hellblaues Hemd. Er sitzt in seinen Büroräumen in einem stuckverzierten Altbau, an den Türen kleben blank geputzte Spiegel. Freundlich und zurückhaltend, beinahe gütig wirkt der Mann, der für viele Argentinier heute ein Held ist. Rechts neben seinem Schreibtisch hängt ein Gemälde, darauf zu sehen: protestierende Argentinier, hinter ihnen Flammen.

„Es war beängstigend“, sagt der ehemalige Wirtschaftsminister. „Die soziale Situation bei uns war wesentlich schlimmer, als sie es heute in Griechenland ist.“ Mehr als die Hälfte der Argentinier war damals arm. Auf den Straßen verkauften Hausfrauen selbstgebackene Kuchen. Tauschmärkte entstanden. Die Provinzen (so heißen die Bundesländer in Argentinien) begannen eigene Geldscheine neu erfundener Währungen zu drucken, um die Staatsangestellten bezahlen zu können. Arbeiter besetzten von den Besitzern aufgegebene Fabriken und produzierten auf eigene Faust weiter. Und die, die gar nichts hatten, durchforsteten den Müll. Mit dem „tren blanco“, dem „weißen Zug“, kamen plötzlich jede Nacht Hunderte armer Menschen in das Stadtzentrum von Buenos Aires, um Papier und andere Wertstoffe zu sammeln.

Es gebe durchaus Parallelen zwischen den Krisen in Argentinien und in Griechenland, sagt Lavagna. Eine Währung, die das Land nicht selbst lenkt (in Argentinien war der Peso an den Dollar gekoppelt), vier Jahre Rezession und eine hohe Verschuldung bei internationalen Akteuren, die Einfluss auf die nationale Wirtschaftspolitik nehmen. „Der Währungsfonds hatte auch uns damals empfohlen, die Gehälter um 13 Prozent zu senken und die Steuern anzuheben, ähnlich wie heute in Griechenland. Doch ohne Wachstum hat ein Land keine Chance.“ Deshalb wagte Lavagna 2002, was sich vor ihm niemand getraut hatte. Er sagte: „Nein, danke.“ Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, wenn er sich an das entscheidende Treffen mit Horst Köhler erinnert, dem späteren deutschen Bundespräsidenten, der damals Direktor des IWF war: „Ich musste drei Mal wiederholen, dass wir keine neuen Kredite mehr wollten. Zuerst dachte ich, dass mein lateinamerikanisches und sein germanisches Englisch nicht kompatibel seien, aber daran lag es nicht. Er konnte es einfach nicht glauben.“ Worum es der argentinischen Regierung ging: „Wir wollten keine Gelder mehr und endlich ohne Einmischung von außen die Wirtschaftspolitik machen, die gut für unser Land war.“ Argentinien wurde so zum Ausgestoßenen am Finanzmarkt und bekam keine Kredite mehr – und dennoch schaffte es das Land aus eigener Kraft. Erst 2004 einigte man sich mit den Gläubigern, die argentinische Anleihen hielten.

Ob denn aus Griechenland schon jemand bei ihm angerufen habe, um um Rat zu bitten? Lavagna lächelt und schüttelt den Kopf. Dann geht er mit den Europäern – besonders mit Deutschland und Frankreich – hart ins Gericht. „Seit zwei Jahren diskutieren die Europäer. Sie haben die Krise nur verschlimmert, und private Verluste wurden in öffentliche Schulden umgewandelt“, sagt der Ökonom. „Dabei war die Ausgangssituation für Griechenland besser als die für Argentinien: Wir standen damals ganz alleine da, Griechenland gehört zur EU. Wenn die Griechen den politischen Willen und den Mut hätten, anders zu denken, gäbe es Lösungen.“ Er könne sich eine Doppelwährung für Griechenland vorstellen, sagt Lavagna: für Inlandsgeschäfte die Drachme, für den Außenhandel den Euro. „Das ist zwar technisch kompliziert, könnte aber als Übergang, für fünf oder zehn Jahre, eine gute Lösung sein. Die entscheidende Frage ist langfristig allerdings auch: Was verkauft Griechenland? In welchen Bereichen ist es wettbewerbsfähig?“

Zu den Sparvorschlägen sagte das Land: „No, gracias“

Auch für Argentinien hat der Ex-Minister eine Empfehlung parat: „Keine neue Auslandsverschuldung, zumindest jetzt noch nicht! Einem Ex-Alkoholiker würden Sie ja auch nicht empfehlen, in der nächsten Eckkneipe einen trinken zu gehen.“

Victoria Engel hat einen Café cortado bestellt, einen Espresso mit einem Häubchen aufgeschäumter Milch, und erzählt von ihrem Job. Sie kümmert sich um Gewaltopfer, besonders um Kinder: „Kinder sind die ersten, die die Ängste der Eltern abbekommen, auch in einer Wirtschaftskrise.“ Die Psychologin hat Freunde in Europa, viele haben Argentinien vor zehn Jahren verlassen, als es dem Land schlecht ging. Und erleben jetzt die Krise in Spanien. „Alle sagen mir: Es ist nicht so schlimm wie damals in Argentinien. Vielleicht sind die Europäer einfach nicht so krisenerprobt wie wir“, sagt Victoria und rührt in ihrem Kaffee. „Das ist wie mit dem Wetter: Wenn es ein paar Tage lang mehr als 30 Grad hat, klagen in Europa schon alle über eine Hitzewelle. Bei uns ist das normal.“

Noch ist ihr Platz in Argentinien. Doch Victoria macht sich Sorgen, misstraut dem makroökonomischen Frieden. Der Reichtum in Argentinien ist ungleich verteilt und die Inflation hoch. Offiziell liegt sie bei knapp unter zehn Prozent, inoffiziellen Schätzungen nach bei über 25 Prozent. „Wir haben alle zehn Jahre eine Krise, wer weiß, wann es wieder so weit ist. Ursprünglich hatten mein Mann und ich überlegt, nach Spanien zu gehen.“ Doch die Spanier kommen auf der Suche nach Arbeit längst nach Argentinien, über tausend jeden Monat. Die finanziellen Mittel für einen Neuanfang hätte Victoria: Das Geld auf dem Bankkonto war für sie am Ende doch nicht verloren. Sie verklagte den Staat – und bekam recht: Dass der gleiche Staat ihr zunächst den Vater geraubt hatte und danach auch die Entschädigung für seinen Tod, sei nicht rechtmäßig, hieß es im Urteil. Victoria konnte sich ihre Wohnung kaufen. „Eins ist klar“, sagt sie. „Wenn ich jemals wieder Geld gespart haben sollte – auf ein Bankkonto zahle ich es bestimmt nicht ein.“

Internationaler Währungsfonds

Der IWF ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Er soll seinen Mitgliedsstaaten mit Krediten helfen, wenn sie in eine finanzielle Krise geraten. Die Kredite sind jedoch an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel mussten in der Vergangenheit notleidende Staaten ihre Märkte öffnen und Subventionen streichen. Dem IWF gehören 187 Länder an, deren Stimmrecht sich nach der Höhe des eingezahlten Geldes bemisst. Deutschland hat zum Beispiel 5,81 Prozent der Stimmen, die USA haben 16,76 Prozent. Kritiker werfen dem IWF vor, undemokratisch zu sein und Ländern eine neoliberale Wirtschaftspolitik auf- zuzwingen.

Währungen koppeln

Für manche Staaten kann es sinnvoll sein, den eigenen Wechselkurs gesetzlich an eine andere Währung zu knüpfen. Für einen Euro bekommt man zum Beispiel immer 3,4528 Litauische Litai. Das hat den Vorteil, dass sich besser langfristig planen lässt und die Möglichkeiten zur Spekulation eingeschränkt werden. Allerdings hat es auch den Nachteil, dass ein Staat damit einen Teil seiner geldpolitischen Handlungsmöglichkeiten aufgibt und sich von un- günstigen Preisentwicklungen aus dem Aus- land abhängig macht.