Viele Nationalhymnen widersprechen dem olympischen Geist. Warum werden sie dann bei Siegerehrungen gesungen?

Wie modern sind eigentlich die Olympischen Spiele der Neuzeit heute noch? Als Baron Pierre de Coubertin die Spiele 1894 ins Leben rief, war Sport lediglich eine spielerische Variante des Krieges – und als solche natürlich den Männern vorbehalten. Und als bei den Spielen 1920 in Antwerpen zum ersten Mal der olympische Eid geschworen wurde, da sagte der belgische Degenfechter Victor Boin stellvertretend für alle:

„Wir schwören, dass wir an den Olympischen Spielen als ehrenwerte Kämpfer teilnehmen, die Regeln der Spiele achten und uns bemühen werden, ritterliche Gesinnung zu zeigen, zur Ehre unseres Vaterlandes und zum Ruhme des Sports.“

Das klingt nicht erst im 21. Jahrhundert etwas martialisch. Schon in den 1960er-Jahren wurde der Text des Eides geändert und von einem „Schwur“ zu einem „Versprechen“ gemacht. Im Jahr 2000 wurde übrigens der Zusatz „ohne Doping“ eingefügt.

Offiziell handelt es sich bei den Olympischen Spielen nicht um Länderkämpfe. Deshalb werden Medaillenspiegel auch nie vom Veranstalter veröffentlicht. Dass trotzdem bei Siegerehrungen die Nationalhymne des Gewinners erklingt, liegt daran, dass ein nationales olympisches Komitee die Athleten entsendet – und zu Ehren dieses Komitees wird die Hymne gespielt.

Dabei sind viele Hymnen genau das, was sie ursprünglich sein sollten: nationalistisch und bisweilen geprägt vom Hass auf andere Länder – und damit dem olympischen Geist widersprechend. Und so kommt es bei vielen Siegerehrungen zu symbolträchtigen Situationen – wie zum Beispiel 1992 in Barcelona, als der kubanische Boxer Hernandez Ascuy gegen den US-Amerikaner Chris Byrd im Mittelgewicht das Finale gewann und später singen durfte: „Fürchtet den ruhmreichen Tod nicht, denn für das Vaterland sterben heißt leben.“
 


Weitere Beispiele:
 

China


„Steht auf! Wir wollen keine Sklaven sein / Die lange Mauer baut neu aus Fleisch und Blut (…) Mit Tausenden Leibern / doch im Herzen eins / trotz feindlicher Kanonen: Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!“
 

Mexiko


„Aber so je eines feindlichen Fremdlings / Fuß deinen Boden verbrecherisch schändet / Teures Vaterland, Gottes Gnade sendet / Soldaten, so viele du Söhne gezeugt.“
 

Polen


„Noch ist Polen nicht verloren / solange wir leben / was uns fremde Übermacht nahm / werden wir uns mit dem Säbel zurückholen.“
 

Algerien


„Ich schwöre bei den tödlich drohenden Gefahren / bei dem reinen sündenlosen Blut und / bei den strahlenden flatternden Fahnen / auf den hohen stolzen Bergen / Wir haben uns erhoben! / Es gelte Leben und Tod!“
 

Italien


„Ihr Brüder Italiens / Italien hat sich erhoben (...) / Wo ist die Siegesgöttin? / Sie möge Italien ihr Haupt zuneigen / denn als eine Sklavin Roms hat Gott sie geschaffen (...) / Fest geschlossen die Reihen / woll’n wir dem Tode uns weihen / Italien erwacht.“