Curtis Ebbesmeyer mag keine sauberen Strände. Er mag verdreckte Strände, Strände, die erst auf den zweiten Blick von der Natur erzählen und auf den ersten von Zivilisation. Deshalb mag er die Strände von Cornwall an der Südwestküste Englands. Wer dort spazieren geht, bekommt zu sehen, womit sich Klein wie Groß in den wohlhabenden Breitengraden so vergnügt: mit Lego. Seit rund 17 Jahren spült das Meer hier schwarze Tintenfische, gelbe Lebensretter, rote Delfine und grüne Drachen an.

Was Sammler freut, hatte seinen Ursprung etwa 30 Kilometer vor der englischen Küste. Am 13. Februar 1997 stürmte es dort gewaltig, wobei der Frachter „Tokio Express“, gerade auf seinem Weg nach New York, 62 Container verlor. In einem von ihnen: 4.756.940 Lego-Teile. Kurz darauf wurden auch schon die ersten Spielzeuge in Cornwall angeschwemmt. Für Curtis Ebbesmeyer ein großer Tag, denn er sammelt Treibgut. Was ist das eigentlich, warum schwimmt es, wie schwimmt es? Und wie ist es überhaupt hierhergekommen? – Alles wichtige Fragen für den Ozeanografen, der seit mehr als 20 Jahren die Meeresströmungsforschung mit seinen Anekdoten und Plastikzeugrechenmodellen bereichert. Das Treibgut hat Ebbesmeyer als wichtiges Medium für sich entdeckt, durch das er auf ozeanografische Fragen aussagekräftige Antworten bekommen kann.

So richtig begonnen hat alles Anfang der 1990er: Der Frachter „Hansa Carrier“ hatte ca. 1.000 Seemeilen südlich der Alaska-Halbinsel 61.000 Nike-Turnschuhe verloren. Im Winter darauf landeten die ersten Sneakers an den Stränden – auch in Washington State, wo Ebbesmeyer zu jener Zeit seine Eltern besuchte. Trotz des aggressiven Salzwassers waren sie gut in Schuss und ließen sich anhand ihrer Seriennummer identifizieren. Rund um die Turnschuhe entwickelte sich sogar eine Tausch- und Vermittlungsbörse, damit der linke sein rechtes Pendant fand. Ebbesmeyer trug die Meldungen zusammen und übergab sie dem Programmierer James Ingraham von der US-Fischereiverwaltung. Mit seiner „Ozeanischen Oberflächenströmungssimulation“ sollte er die Zeit der Schuhe von der Unfallstelle bis zur Küste berechnen – und dadurch ihren Weg ermitteln.

Die Wirbel sind an allem schuld

Was bei den Nikes gut funktionierte, war bei den 28.800 Plastiktierchen, die im Januar 1992 auf ihrer Reise von Hongkong nach Seattle nahe der Datumsgrenze über Bord gingen, schon schwieriger. Die Armada aus Entchen, Schildkröten, Fröschen und Bibern – „Friendly Floatees“ genannt – verteilte sich an Küsten auf der ganzen Welt. Zunächst fanden Spaziergänger in Alaska viele der Planschtiere, das Gros trieb aber mit einer Geschwindigkeit von rund elf Kilometern pro Tag nach Süden. Später gab es auch Meldungen aus Japan, Australien, Schottland. „Während die Sneakers mit den Hacken nach oben trieben, ragten die Schwimmtierchen mehr aus dem Wasser heraus. Deshalb waren sie viel stärker den Winden ausgesetzt“, schlussfolgert Ebbesmeyer. Drei Jahre lang, berechnete der Ozeanograf, soll ein Teil der Tierchen doppelt so schnell wie das Wasser an der Oberfläche im subarktischen Meereswirbel seine Kreise gedreht haben.

Noch vertrackter ist aber die Lösung bei den Lego-Teilchen, denn dort gingen Ebbesmeyers Berechnungen nicht im Geringsten auf. Bis heute tauchten die Plastiksteine fast ausnahmslos an dieser einen Stelle wieder auf: an der Küste Cornwalls. Und dabei kann es sich nur um einen kleinen Teil der Fracht handeln. Der Inhalt der anderen 61 Container ist dem Meeresforscher ein Rätsel. Nirgendwo findet sich auch nur eine Spur.

Und das, obwohl der Großteil von verlorener Fracht und Plastikmüll normalerweise wieder an die Küsten gespült wird, wie der Ozeanograf Erik van Sebille von der Universität New South Wales in Sydney vermutet. Aber den Weg von Plastik im Meer vorherzusagen ist alles andere als leicht. Viele Faktoren spielen da mit rein: Wie tief liegt das Objekt im Wasser? Wie salzig ist das Meer? Wie heftig sind die Winde? „Einen maßgeblichen Einfluss darauf, wo etwas hinschwimmt, haben die vielen kleinen Wirbel, deshalb sind etwa die Plastikenten an unterschiedlichen Küsten angeschwemmt worden – obwohl sie alle gleichzeitig ins Wasser fielen“, sagt van Sebille.

Das Meer ist voll von solchen Wirbeln, die oberflächlich betrachtet wie ein wuselndes Chaos aussehen. „Aber natürlich ist es kein absolutes Chaos, sonst würde so etwas wie Garbage Patches – riesige Flächen, wo sich der Müll in den Ozeanen sammelt – nicht existieren.“ Das Plastik diene deshalb eher dazu, Meeresströmungen zu visualisieren, als genau vorherzusagen, welche Routen es gibt. „Man muss sich das wie ein überdimensionales Straßennetz vorstellen: Nur weil die Autobahnen stark befahren sind, heißt es nicht, dass es keine Hunderttausende anderer kleiner Straßen gibt, die zum Ziel führen.“

Bojen mit GPS-Trackern als Kartografen

Ebbesmeyers unkonventionelle Forschungsmethode, bei der er sich auf die Unglücks- und Anschwemmorte von Badeenten und Lego-Delfinen stützt, helfen dabei zu zeigen, welche Wege das Treibgut zurückgelegt hat. Wie komplex das Straßennetz jedoch ist, visualisieren hingegen quantitative Messmethoden. Das Team rund um Erik van Sebille, das ein Forschungsprojekt zur Verfolgung und Visualisierung von Plastikmüll vor rund zehn Jahren ins Leben gerufen hat, verwendet beispielsweise Plastikbojen mit integrierten GPS-Systemen, die alle sechs Stunden ihre Geo-Koordinaten in die Zentrale funken.

Problematisch ist laut Sebille nämlich nicht die Existenz der Garbage Patches, sondern der Weg des Plastikmülls dorthin, weil da der meiste Schaden für das Ökosystem entsteht: „In den Garbage Patches passiert so gut wie nichts, es wird nicht gefischt, dort ist kein Leben, dort sind keine Nährstoffe mehr.“ Nicht umsonst werden diese Flächen auch Wüsten der Ozeane genannt, Wüsten, die wie an Land durch Winde entstehen. Insgesamt gibt es sechs Garbage Patches, die staubsaugerähnlich all das Plastik, das nicht an Küsten geschwemmt oder aufgegessen wurde, für Jahrzehnte, vielleicht für Jahrhunderte oder Jahrtausende in sich halten.

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Große Herumtreiber: Eine Ladung Quietscheentchen wurde von der Meeresströmung in alle Weltmeere verteilt – in Wirklichkeit waren es natürlich ganz kleine (Foto: Ted Soqui/Corbis)

Große Herumtreiber: Eine Ladung Quietscheentchen wurde von der Meeresströmung in alle Weltmeere verteilt – in Wirklichkeit waren es natürlich ganz kleine

(Foto: Ted Soqui/Corbis)

„Es würde wahrscheinlich die komplette US-Navy 24/7 ein ganzes Jahr lang brauchen, um einen einzigen Garbage Patch sauber zu machen … aber die Navy ist dazu da, Kriege zu führen“, mutmaßt Curtis Ebbesmeyer in einem Radiointerview und spinnt den Gedanken weiter: „Aber eigentlich sind wir ja in einem Krieg, in einem Krieg mit uns selbst.“ Erik van Sebille hält wie einige andere Ozeanografen nicht so viel von der Idee, die Ozeane aufzuräumen: „Es wäre nicht nur unglaublich teuer und CO2-intensiv, sondern würde vermutlich mehr Schaden im Meer anrichten, als dass es Nutzen bringt.“ Den einzigen Handlungsspielraum sieht er darin, die Plastikmassen an Land zu reduzieren.

Und hier kommen Curtis Ebbesmeyer und die ausgewaschenen Lego-Figuren wieder ins Spiel: Seine Kalkulationen mögen zwar der quantitativen Forschung nichts bringen, wohl aber die Auswüchse der Plastikproduktion und des internationalen Müllaustauschs plakativ machen.

Text und Animation: Marion Bacher, 28, ist Volontärin bei der bpb in Bonn. Lukas David Wagner, 31, arbeitet als freischaffender Filmemacher und Journalist in Wien.