fluter: Frau Hark, Sie sind eine der bekanntesten Genderforsche-rinnen Deutschlands. Ganz kurz erklärt: Was machen Sie in Ihrem Job?

Sabine Hark: Ich vermittle den Studierenden, dass Geschlecht eine Kategorie ist, mit der wir die Gesellschaft ordnen. Wir haben alle eine Vorstellung von Geschlecht, davon, wie Frauen und Männer „so sind“. Aber wo kommt das Wissen her? Was sind die historischen Kontexte? Zu welchen Handlungsmustern führt das? Was hat das Geschlecht damit zu tun, welche Rolle jemand in der Ge-sellschaft annehmen soll? Welche sozialen und ökonomischen Kon-sequenzen hat das? Darum geht es in der Geschlechterforschung.

Warum werden Geschlechterforscherinnen in der vergangenen Zeit selbst in bürgerlichen Leitmedien angegriffen?

Man kann tatsächlich von Hass auf die Genderstudies sprechen, der in den vergangenen zwei bis drei Jahren stark zugenommen hat. Weil es politisch nicht opportun ist, gegen Gleichstellung zu sein, hat sich die Argumentation in andere Bereiche verschoben. Jetzt wird wieder stärker mit der Biologie argumentiert, auf die vermeintlich „unhintergehbare Natur“ verwiesen, die nur zwei Geschlechter vorsehe. Den Genderstudies wird vorgeworfen, eine totalitäre Gleichmacherei zu betreiben. Das ist Unsinn. Aber die Inhalte der Geschlechterforschung sind vielen Menschen unbekannt, das macht es leicht, sie zu verteufeln.  

Lann Hornscheidt, auch in der Genderforschung tätig,  möchte nicht klar als Frau oder Mann adressiert werden und hat mit dem Vorschlag, als „Professx“ angesprochen zu werden, eine deutschlandweite Debatte ausgelöst. Hat Sie deren Heftigkeit überrascht?

Ja, sehr. Es gab auf diesen Vorschlag nahezu gewalttätige Reaktionen. Dabei hat Lann Hornscheidt nicht gesagt: Das müssen von nun an alle so oder so machen. Es ging um einen Vorschlag, wie eine bestimmte Person selbst gern adressiert werden -möchte. Und zudem um eine Anregung, über die Vergeschlechtlichung von Sprache nachzudenken.

Wird der Genderbewegung mit einem solchen Vorschlag nicht ein Bärendienst erwiesen, weil der Ansatz Menschen verunsichert und eher noch mehr Zerwürfnis verursacht?

Wir leben offenbar in einer Kultur, die extrem fehlervermeidend sein möchte. Ein Fehler ist immer nur ein Versagen, anstatt ihn als Gedankenanstoß zu sehen und daraus zu lernen. Dabei wird die ausgrenzende Wirkung von Sprache tatsächlich noch zu wenig vermittelt. Nach Jahrzehnten des Feminismus ist das generische Maskulinum – also etwa die Rede von Professoren, Ärzten oder Studenten – immer noch die verbreitete Form. Neulich hatte ich eine Studentin aus Dänemark in meinem Seminar, die entsetzt vom konservativen Umgang auch mit Sprache in Deutschland war. Da sei man in Dänemark viel weiter. Meine Berliner Studierenden waren geschockt, bescheinigt zu bekommen, dass wir in Deutschland so hinterherhinken.

Mit wenigen Ausnahmen werden Menschen biologisch als Mann oder Frau geboren. Sie sagen aber, die eigentlich entscheidenden Unterschiede werden nicht angeboren. Was macht Sie da so sicher?

Wir haben einen großen Bestand an sozialem, kulturwissenschaftlichem und historischem Wissen, das uns zeigt, dass Geschlecht in der Geschichte schon sehr unterschiedlich gelebt worden ist. Die Geschlechter, die wir heute hier bei uns im Westen kennen, sind ein Produkt historisch-kultureller Prozesse. Auch heute gibt es auf der Welt Kulturen, die Geschlecht unterschiedlich leben. Das heißt nicht, dass ich in Abrede stelle, dass wir in unterschiedlichen Körpern leben. Aber was diese Körper bedeuten, ist historisch wandelbar.

Wenn die Zweigeschlechtlichkeit als Norm infrage gestellt wird, wie viele Geschlechter gibt es dann – und wie viele sollten auch staatlich anerkannt werden?

Es gibt so viele Weisen, Geschlecht zu leben, wie es Menschen auf der Welt gibt. Die Tatsache, dass ich in einem biologisch als weiblich klassifizierten Körper stecke, dass ich juristisch eine weibliche Person bin, sagt nichts darüber aus, ob ich mich persönlich als Frau verstehe. Das Geschlecht funktioniert als „sozialer Platzanweiser“ in der Gesellschaft. Das gilt es zu verändern. Geschlecht darf keinen Einfluss darauf haben, was ich werden kann und welche Chancen ich im Leben habe. Ob dann am Ende des Tages zwei, fünf oder zwölf Geschlechter staatlich anerkannt sind, ist nicht entscheidend.

Werden die klassischen Geschlechterrollen den Kindern heute nicht bereits weniger eingetrichtert als früher?

Im Gegenteil. Wir erleben derzeit eine deutlich intensivere Vergeschlechtlichung – und auch Sexualisierung der Kindheit und kindlicher Welten, als beispielsweise noch in meiner eigenen Kindheit in den spätern 1960- und 70er-Jahren. Das hat sicherlich auch mit kapitalistischen Marketing- und Verwertungsstrategien zu tun. Das gilt unter anderem für Kleidung oder Spielzeug; nehmen Sie das Beispiel Lego. Früher gab es bunte Steine, daraus konnte man bauen, was man wollte, ein Haus, ein Boot, was auch immer. Heute haben Sie eine Lego-Welt für Mädchen mit Bausätzen für rosafarbene Glitzerhäuser und eine mit blauen Steinen für Jungs. Es muss offensichtlich unbedingt ein Unterschied, in der Genderforschung nennen wir das „Gleichheitsverbot“, gemacht werden – mit welchen Mitteln auch immer. Das ist heute extremer als noch vor 20 oder 30 Jahren.

Gibt es denn später im Leben, in der Arbeitswelt, eine Annäherung? Sitzen wir nicht alle am Ende vor Computern, wodurch typisch männliche oder weibliche Eigenschaften nicht mehr so stark zählen?

Global gesehen stimmt das überhaupt nicht. Ein Großteil der Arbeit ist immer noch sehr dreckige und schwere Handarbeit. Da arbeiten Menschen in Minen oder in Nähfabriken. Interessant ist auch eine Erhebung des Statistischen Bundesamts, nach der Frauen bei uns zwei Drittel ihrer Arbeit unbezahlt leisten, also Haushalt, Kinder, Pflege von Angehörigen. Außerdem leisten Frauen den überwiegenden Teil der schlecht entlohnten und sozial niedrig geschätzten Erwerbsarbeit. Da kann ich wirklich nicht sehen, dass wir „am Ende alle vor dem Computer sitzen“ und das irgendeine egalisierende Wirkung auf das Geschlechterverhältnis hätte. Ich zitiere da immer gern die Journalistin Ingrid Kolb: „Feminismus ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Antwort auf Statistiken.“

Sollte es – um diesen Zustand zu ändern – mehr gesetzliche Regelungen wie die Frauenquote geben?

Wir können erst mal feststellen, dass es ohne gesetzliche Regelungen nicht geht. Auf freiwilliger Basis wurde es lange probiert, und das hat schlicht nicht geklappt. Wir haben aber auch jetzt keine echte Frauenquote, denn es geht erst einmal nur um Aufsichtsräte börsennotierter und mitbestimmungspflichtiger Dax-Unternehmen, deutschlandweit sind das lediglich rund 170 Positionen. Ich bin für eine echte Frauenquote, denn faktisch hatten wir jahrhundertelang Männerquoten.

Wie sahen diese Männerquoten aus?

Es ist gerade mal etwas länger als 100 Jahre her, dass Frauen in Deutschland überhaupt studieren dürfen. Bis dahin hatten wir in der Wissenschaft eine Männerquote von 100 Prozent. Bis die historisch abgebaut ist, haben wir noch einige Jahrzehnte vor uns, wenn wir keine politischen Instrumente finden.

Momentan sind Mädchen bis ins Studium oft den Jungs voraus. Wenn es dann um die oberen Positionen in der Wissenschaft geht, ziehen die Jungs wieder vorbei. Was läuft da schief?

Das hat nicht nur etwas mit der mangelnden -Familienfreundlichkeit im akademischen Betrieb zu tun. Es hat auch etwas mit geschlechtlichen Stereotypen zu tun. Es gibt viele experimentelle Studien, die zeigen, dass bei identischen Bewerbungen auf Professuren die Erfolgsquote bei einem männlichen Vornamen deutlich besser war als bei einem weiblichen. Es gibt auch nach wie vor die „typischen Frauenfächer“ in den Sprach- und Kulturwissenschaften. Da haben wir 70 bis 80 Prozent Absolventinnen. Bei den Professoren dreht sich das Verhältnis aber nahezu wieder um. So viel zum Thema Quotierungen.

Klingt, als gäbe es für die Frauenbewegung noch viel zu tun. Vielen jungen Frauen ist der sehr ideologisch geführte Feminismus von früher aber suspekt, sie grenzen sich von Ikonen wie Alice Schwarzer ab. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, und ich finde das nicht problematisch. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich für einen Feminismus à la Schwarzer stehe oder für einen globalen intersektionalen Feminismus eintrete. Und es ist wichtig, solche Unterschiede zu markieren. Dass gerade beim Feminismus und bei der Frauenbewegung öffentliche Auseinandersetzungen eher negativ wahrgenommen werden, hat vielleicht auch wieder mit bestimmten Weiblichkeitsvorstellungen zu tun. Frauen wird keine Tradition der öffentlichen Streitkultur zugebilligt, weil sie historisch nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum verankert wurden. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass wir noch entschiedener in die Auseinandersetzung um verschie-dene Positionen und Perspektiven gehen.

Gilt das auch für die Auseinandersetzung mit dem sogenannten neuen Maskulinismus, der heute Jungs und Männer gegenüber Frauen als benachteiligt ansieht?

Absolut. Das ist eine sehr klare politische Kampflinie. Es geht um die Deutungshoheit über die Zahlen. Da muss man sich auch politisch positionieren, und es gibt gute statistische Argumente für die feministische Perspektive.

Momentan treten viele Kommentatoren und Politiker Flüchtlingen gerade in Geschlechterfragen mit großem Selbstbewusstsein entgegen und warnen vor einer Aufweichung der Errungenschaften der Geschlechtergerechtigkeit durch eine muslimische Macho-Kultur. Wie empfinden Sie das?

Wir haben fast ein Drittel weibliche Flüchtlinge und fast ein Drittel Kinder und Jugendliche. Klar gibt es da eine spezifische Schutzbedürftigkeit. Es findet bei dieser Debatte aber eine – auch für mich als Feministin unerträgliche – Versämtlichung der Männer statt. Plötzlich sollen alle Frauenfeinde und homophobe, übergriffige Patriarchen sein. Das alles gibt es. Aber das sind keine Merkmale einer bestimmten Kultur oder Religion, sondern Elemente eines Patriarchats, das es in jeder Gesellschaft geben kann. Viele dieser Männer fliehen doch gerade vor Gewalt und Krieg. Diese Art sexistischer Verallgemeinerung ist schlimm. In der feministischen Theorie wird das „Femonationalismus“ genannt. Dabei werden der Feminismus und die Gleichstellung benutzt, um fremdenfeindliche und islamfeindliche Politiken zu stärken.