Unruhig rutschen die 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf ihren Stühlen hin und her. Ihnen bleiben nur noch wenige Tage, dann müssen sie beweisen, dass sie über Deutschland Bescheid wissen. „Das wird schon“, sagt Lehrerin Annemarie Schulz. Die 58-Jährige hat die Ruhe weg, schließlich unterrichtet sie schon seit mehr als zehn Jahren in solchen Kursen.

In ihrer jetzigen Form existieren die Integrationskurse seit 2005. Neben einem Sprachkurs gehört auch ein Orientierungskurs zum Programm. Sein Ziel: die Vermittlung der deutschen Rechtsordnung, Geschichte und Kultur; insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit. Am Ende des Kurses steht der Test „Leben in Deutschland“, der seit 2013 auch als Einbürgerungstest gilt. Aus insgesamt 310 Fragen werden für den Test jeweils 33 ausgewählt: 15 richtige Antworten braucht es, um den Kurs erfolgreich abzuschließen, 17 für die Einbürgerung.  Pro Frage gibt es vier Antwortmöglichkeiten, von denen nur eine richtig ist. Zur Vorbereitung haben sie im Kurs einen Probetest geschrieben, jetzt gibt die Lehrerin die korrigierten Tests zurück.

Frage 14:„Meinungsfreiheit in Deutschland heißt, dass ich …?“ 

Annemarie sieht Konstantinos entschlossen an, wartet ab. Der gebürtige Grieche hebt zögernd die Hand, als wolle er sich für seine Antwort entschuldigen, bevor er sie überhaupt gegeben hat. „Meine Meinung sagen darf, solange ich der Regierung nicht widerspreche“, sagt er schließlich. „Natürlich darfst du der Regierung widersprechen. Du musst genau lesen.“ Wieder wartet die Lehrerin. Diesmal antwortet Silvana: „Dass ich meine Meinung in Leserbriefen äußern darf.“ Konstantinos hebt seine Augenbrauen – er wäre durchgefallen. Neidisch blickt er zu Yohannes und Isaias. 

Isaias hat nur zwei Fragen falsch beantwortet, Yohannes keine einzige. Die Jungs geben sich High-five. Beide sind im Sommer 2014 aus Eritrea geflohen. Fragt man sie nach ihrer Heimat, winken sie ab. Fragt man sie allerdings nach Deutschland, legen sie los. „Deutschland ist ein demokratisches Land. Hier kann sich jeder frei bewegen. Alle kriegen Bildung“, sagt Yohannes. „Jeder, der arbeiten will, kann hier Arbeit finden. Ungleichheit verbietet das Gesetz“, betont Isaias und tippt auf den Probetest, als wollte er sagen: „Da steht es!“

Nachdem die Ergebnisse des Probetests besprochen wurden, geht es um das Thema Bildung. Als Annemarie eine Folie auflegt, auf der das Bildungssystem Deutschlands dargestellt ist, wedelt Rubaiyat aufgeregt mit seinem rechten Arm und ruft „Diskriminierung“. Er hat genau zugehört, als Annemarie ihnen die Schulformen erklärt hat. „Wenn die Kinder schon nach der Grundschule sortiert werden und die einen auf die Hauptschule kommen und die anderen aufs Gymnasium, ist das nicht fair“, sagt Rubaiyat. „Sie haben nicht die gleichen Chancen.“ Annemarie verweist auf die Gesamtschule, berichtet, dass das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland stark diskutiert wird. Der Kurs diskutiert es dann auch. Die Lehrerin lächelt.

Annemarie mag es, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kritisch sind – es zeige ihr, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzten. „Strikte Gegenpositionen kommen nur selten vor. Neulich hatte ich mal einen Fall“, erzählt sie. Es ging um die Frage 267: „Eine junge Frau in Deutschland, 22 Jahre alt, lebt mit ihrem Freund zusammen. Die Eltern der Frau finden das nicht gut, weil ihnen der Freund nicht gefällt. Was können die Eltern tun?“

Die Eltern müssen die Entscheidung der Tochter respektieren. Das ist die richtige Antwort im Test, und die „geht gar nicht“, fand ein Teilnehmer. „Ich kann mir nie hundertprozentig sicher sein, ob es fruchtet, was ich ihnen zu vermitteln versuche“, sagt Annemarie. Allerdings müsse man sich auch bewusst machen, dass viele den gleichen oder einen ähnlichen kulturellen Hintergrund hätten wie gebürtige Deutsche.

Bundesweit haben den Test „Leben in Deutschland“ im ersten Halbjahr 2015 93 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestanden. Hier im Kurs arbeitet Annemarie noch daran, den Schnitt nicht nach unten zu ziehen. Ihr ist klar: Die Fragen richtig zu beantworten ist die eine Sache, wirklich in Deutschland ankommen eine andere.