Drei Millionen Tote, davon zwei Millionen Zivilisten, vier Millionen Schwerverletzte – das ist die Bilanz des Vietnamkrieges. Von 1965 bis 1973 führten die USA in Südostasien einen Krieg, den viele Amerikaner immer weniger verstanden. Die Supermacht gegen ein kleines Land am Ende der Welt, an dessen kommunistischem Norden die USA ein Exempel statuieren wollten. Wie kein anderes Ereignis polarisierte der Vietnamkrieg erst die amerikanische Gesellschaft und dann die Jugend der Welt.

Als die militärische Intervention der USA 1965 beginnt, ist die Weltlage bereits angespannt: Die allgegenwärtige Drohung eines Atomkrieges, die Konfrontation der Militärblöcke, die Kubakrise, die Nachwehen des Koreakriegs – all das schürt Ängste. Folksänger wie Pete Seeger, Phil Ochs und der junge Bob Dylan greifen diese Stimmung schon in den frühen Sechzigern auf. Mit Songs wie „Talking Vietnam Blues“ oder „Masters of War“ begründen sie ein neues Pop-Genre: den Antikriegs- Song. Binnen weniger Monate hat fast jede Band so einen Antikriegssong im Repertoire, binnen weniger Monate schießen die neuen Bob Dylans nur so aus dem Boden. Joan Baez und John Lennon, Marvin Gaye und Curtis Mayfield, Creedence Clearwater Revival und Jefferson Airplane – sie alle haben Hits mit Songs gegen diesen Krieg. Aus dem Protest entwickeln sich die Utopien für ein neues Zusammenleben. „Make love not war“ lautet eine der großen Parolen der weltweiten Hippiebewegung. Liebe oder Krieg? Die Frage spaltet die Gesellschaft, die Fronten sind klar: Alt gegen Jung, Konservative gegen Hippies, Rechts gegen Links, autoritäre Militaristen gegen hedonistische Freaks. Vietnam ist der Popkrieg des 20. Jahrhunderts.

Auch in den beiden deutschen Staaten prägt dieser Krieg das politische Klima der Popmusik. In der DDR wird die Kritik an den USA vom Staat verordnet, während musikalische Proteste gegen das eigene Regime im Keim erstickt werden. So blüht jenseits des Eisernen Vorhangs in den sechziger und siebziger Jahren vor allem die staatlich gesteuerte Pop-Langeweile. Die wenigen Musiker, die sich Kritik am Regime leisten – wie die Klaus-Renft-Combo oder Wolf Biermann – bekommen Auftrittsverbote.

Wer seine Songs nicht im Look eines Graubrots vortrug, machte sich verdächtig

In der BRD orientieren sich die meisten Popkünstler an angloamerikanischen Vorbildern. Den wenigsten gelingt es, sich mit einer eigenen Ästhetik von diesen Idolen zu emanzipieren. In den Sechzigern versammelt sich um die Burg Waldeck eine kleine, aber lebendige Folkszene, die Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt oder Hannes Wader prominent macht. Auf der politischen Agenda dieser Szene stehen vor allem Antifaschismus und Antikapitalismus, der quasi natürliche Feind sind die USA. Ästhetische Raffinesse, poppige Inszenierungen und jede Art von Show-Biz verfolgt man hier mit Argwohn und Skepsis. Es gilt das einfache Wort zur unverstärkten Klampfe. Dieser kargen GraubrotÄsthetik ist ein großer Teil der westdeutschen Linken bis tief in die Achtziger verpflichtet. Das macht die Aktionen der Friedensbewegung zu musikalisch recht trostlosen Veranstaltungen, Ähnliches gilt für die selbstgenügsamen Darbietungen, wenn sich Atomkraftgegner und Öko-Jünger begegnen. Die einzige deutsche Band, auf die sich fast alle Fraktionen der Linken einigen können, ist Ton, Steine, Scherben. Auch 15 Jahre nach dem Tod ihres charismatischen Sängers Rio Reiser im August 1996 fehlen die eingängigen Gassenhauer der Scherben bei kaum einer Demonstration.

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Sieg des Kapitalismus wird die Lage unübersichtlich. In einigen deutschen Großstädten entstehen nach dem Fall der Mauer und den pogromartigen Überfällen von Rostock, Mölln und Hoyerswerda antirassistische Initiativen, denen sich auch viele jüngere Bands anschließen. Besonders stark ist die sogenannte Poplinke in Hamburg. Bands wie Blumfeld, Die Goldenen Zitronen, Die Sterne und später Tocotronic werden unter dem griffigen Label „Hamburger Schule“ vermarktet. Der kommerziell erfolgreichste Protest im wiedervereinigten Deutschland kommt freilich von rechts. Die Böhsen Onkelz, eine Frankfurter Hardrock- Band mit Skinhead-Vergangenheit, erreicht mit prolligem Habitus, schlichten Parolen und ebensolcher Musik ein großes Publikum. In der verschworenen Onkelz-Gemeinde vertragen sich „unpolitische“ Fans beim Bier problemlos mit stolzen Deutschen, Rassisten und Neonazis, die ihr Gegröle als Protest gegen den Staat sehen.

Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York verändern auch das popkulturelle Koordinatensystem. Nach dem Einsturz des World Trade Centers trauert die Welt mit Amerika. Rockstars wie Bruce Springsteen und Neil Young – in der Vergangenheit nicht zimperlich mit Kritik an den USA – reagieren mit patriotischen Liedern auf den terroristischen Angriff. Die Stimmung dreht sich. Kritik am Präsidenten gilt plötzlich als Vaterlandsverrat. Das bekommen die Dixie Chicks zu spüren. „Wir sind beschämt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten aus Texas stammt“, verkündet die texanische Band 2003 auf einem Konzert in London als Reaktion auf den Krieg in Afghanistan. Darauf hagelt es Proteste, Platten und CDs der Dixie Chicks werden öffentlich verbrannt, es gibt Morddrohungen. Der innertexanische Konflikt der Dixie Chicks gegen George W. Bush sorgt für mehr Aufregung als die Kriege der USA in Irak und Afghanistan. Dort sind die Fronten nicht so klar wie einst in Vietnam. Da galt die Faustregel: Sag mir, ob du für oder gegen diesen Krieg bist, und ich sag dir, welche Musik du hörst, welche Bücher du liest, welche Drogen du nimmst und welche Klamotten du trägst.

Heute ist die Kriegsfrage nicht mehr so eindeutig an Ideologien oder Lebensstile gekoppelt. Man findet Kriegsgegner auf der Rechten und Kriegsbefürworter auf der Linken. Und dazwischen viele, die nur wissen, dass sie nichts wissen. Vietnam – das war David gegen Goliath. Irak und Afghanistan, das sind die asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts. Kein Stoff für heroische Antikriegshymnen. Al Kaida und Taliban taugen nicht als Helden für Love-and-Peace-Romantik, Osama Bin Laden ist kein Che Guevara, Saddam Hussein kein Martin Luther King. Aber auch umgekehrt wird kein Stiefel draus: Weder George W. Bush noch Barack Obama ist es gelungen, der Nation die Idee zu verkaufen, dass es sich hier um einen gerechten Feldzug zur Verteidigung des American Way of Life handelt. Also gilt diesmal: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner ist so richtig dagegen. Und keiner ist so richtig dafür.

Denn die Kriege in Afghanistan und Irak sind viel weiter weg vom Alltag als der Krieg in Vietnam. Die Zahl der amerikanischen Toten ist bedeutend geringer. Die täglichen Nachrichten schocken nicht mit grusligen Bildern von verstümmelten Soldaten. Politik und Militär haben die Bildkontrolle übernommen, Pannen wie die Folterbilder aus dem Gefängnis in Abu Ghuraib sind die Ausnahme. So bleiben amerikanische und europäische Opfer weitgehend unsichtbar, die Opfer auf der anderen Seite gelten vielen im Westen als Terroristen. Nein, das sind keine Popkriege. Und die Protest- Rhetorik von Altvorderen wie Young und Springsteen erreicht eher die Generation Woodstock als die Generation Facebook. Sollte also ausgerechnet Lady Gaga für den politisch bedeutendsten Pop-Moment der neuen Kriege verantwortlich sein? Lady Gaga? Der größte Popstar des Planeten hat sich mit einem spektakulären Auftritt in die Debatte eingeschaltet, ob Schwule und Lesben zur US Army gehen dürfen. Im September 2010 nahm sie eine siebeneinhalbminütige Videobotschaft auf, die bis heute millionenfach im Netz angeklickt wurde.

 „Ich bin hier, um meiner Generation eine Stimme zu verleihen, und zwar nicht der Generation der Senatoren, die abstimmen werden, sondern der jungen Leute dieses Landes“, verkündet die Mittzwanzigerin mit dem Sendungsbewusstsein der meistgehörten Stimme ihrer Generation. In Jackett und Krawatte kritisiert Lady Gaga vor dem Sternenbanner, dass die Praxis der US-Armee Schwule und Lesben diskriminiere und damit gegen jene Werte von Freiheit und Gleichheit verstoße, für die Amerika stehe. „Findet ihr nicht auch, dass wir lieber die heterosexuellen Soldaten heimschicken sollten, die Vorurteile hegen und schwule Soldaten hassen? Ich bin hier, weil ich ein Gesetz vorschlagen möchte, das die Homophoben und Voreingenommenen heimschickt.“ Die Frage nach den Rechten von Schwulen und Lesben beim Militär wird heftiger diskutiert als der Sinn der Kriege. Es geht um Körperpolitik, Identität, Zugang, Teilhabe, Sexualität. Solche Fragen taugen heute eher zu einem Kulturkampf als die Frage nach der Legitimität eines Krieges wie damals dem in Vietnam.