Schlittschuh laufen war ich das letzte Mal mit 14“, stöhnt Nil Kara ibrahimgil. Gerade hat sie ein paar Runden auf dem Eis gedreht, jetzt liegen die Schlittschuhe neben ihr. Auf der größten Eiskunstlaufbahn der Türkei, rund eine Stunde von Istanbul entfernt, dreht sie den Videoclip zu ihrem Song Peri (zu Deutsch: „Elfe“) als ironischen Winternachtstraum. Denn in dem dazugehörigen Song macht sie sich über die Träumereien lustig, die das Verliebtsein so mit sich bringt: „Er hält mich für eine Prinzessin oder Elfe, egal was ich tue, denkt, ich sei aus der Mythologie, mein Haar hält er für ein Diadem“, veralbert sie die Fantasien der Männer. Ironie ist das Markenzeichen der türkischen Sängerin, die 1976 in Ankara geboren wurde und heute im türkischen Pop als Postergirl einer neuen Generation gilt. Bekannt wurde sie einst durch den TV-Werbespot einer türkischen Telefonkartenfirma: Als „freies Mädchen“ – auf Türkisch: özgür kiz – ritt sie da auf einem Pferd über die Bildschirme in jedem türkischen Haushalt und begründete so ihr Image als junge und unabhängige Frau, die auf Konventionen pfeift. „Der Werbespot hat mir gefallen: Er war radikal und hatte eine Botschaft“,sagt Nil rückblickend.

Und er machte sie berühmt. Schon als Teenager hatte Nil damit begonnen Gitarre zu spielen und eigene Songs zu schreiben – allerdings auf Englisch. Sowohl ihr Vater als auch ihr Onkel waren schon als Musiker aktiv. Während sie Internationale Beziehungen studierte, absolvierte Nil ein Praktikum in einer großen Werbeagentur. Dort fragte man sie, ob sie ein Lied über „Freiheit“ schreiben könnte; am Ende trat sie dann selbst damit in dem TV-Spot auf. „Das war bis dahin mein erster und einziger Song auf Türkisch“, erinnert sich Nil. „Aber alle möglichen Plattenfirmen kamen danach zu mir und fragten, ob ich nicht ein ganzes Album aufnehmen wolle.“ Im Jahr 2002 erschien ihr Debütalbum Nil Dünyasi („Nils Welt“), das in der türkischen Musikszene einen ganz neuen Akzent setzte. Durch die intelligente Verbindung von Drum ’n’Bass mit orientalischen Motiven, vor allem aber mit den frechen und ironischen Texten hob Nil sich von der Masse der türkischen Popstars ab.

„Die Rolle des ,freien Mädchens‘ hat mir viel Raum zur Entfaltung gegeben“, gibt Nil zu. „Ich bin zwar nicht das Mädchen aus der Werbung, aber das Image hat zu mir gepasst. Und langsam tritt die Reklamefigur in den Hintergrund.“ Mit ihrer gespielten Mädchenhaftigkeit und ihrer etwas piepsigen Stimme erinnert Nil ein wenig an Jane Birkin oder Vanessa Paradis; als Vorbilder nennt sie selbst aber eher Tori Amos und Madonna. In ihren Texten spiegelt sich das Lebensgefühl junger moderner Frauen in türkischen Großstädten wie Istanbul und Ankara, das sich auf den ersten Blick nicht sehr von dem ihrer Altersgenossinnen irgendwo anders auf der Welt zu unterscheiden scheint.

Sie singt von Cellulitecreme, Kuchenrezepten, Abzählreimen, neuen Diäten oder davon, wie es ist, sich aus Liebeskummer zu betrinken. Mädchenprobleme eben. Folgerichtig war das Cover ihres Debütalbums der Ästhetik einer Frauenzeitschrift nachempfunden,auf dem zweiten Album präsentierte sie sich als Radiostation Nil FM. Mit ihrem jüngst erschienenen dritten Album spielt sie nun auf das berühmte Zitat von Marilyn Monroe an, wonach Diamanten angeblich die besten Freunde einer Frau sind. „Meinen einzigen Edelstein habe ich mir selbst gekauft“, lautet der Titel und in dem Song Pirlanta („Diamant“) singt sie dazu: „Behalte dein Geld, was soll dieses Mädchen mit Reichtum?

Ich habe diesen Diamanten selbst gekauft, ich verdiene selbst Geld, und wenn ich keinen Liebling in meinen Armen halte, was soll ich dann mit dem Diamanten und dem Geld?“ In der Türkei sind solche Sätze noch nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit, das ist Nil bewusst.„Es ist nicht einfach, eine Frau zu sein, das gilt insbesondere für den Osten des Landes“,sagt sie. „Aber ich bekomme viel Zuspruch von Frauen, die sich durch mich inspiriert fühlen, und zwar aus allen Ecken der Türkei.“ Seit mehr als zwei Jahren schreibt sie in der Tageszeitung Hürriyet eine wöchentliche Kolumne, auf die sie viel Resonanz bekommt. „Die Menschen sind es hierzulande nicht gewöhnt, dass Popstars in ihrer Musik eine Meinung vertreten“, hat Nil festgestellt. „Aber es kann sehr effektiv sein, eine Botschaft in einen Popsong zu verpacken: Es ist wie ein Virus, dem man nicht entkommen kann.“