Wasser hat in jeder Kultur und in jeder Religion eine zentrale Bedeutung. Im Buddhismus zum Beispiel ist es nicht weniger als das Gute selbst. Hindus baden im Fluss Ganges, um die Seele von ihrer Schuld zu befreien. Muslime waschen sich vor jedem Gebet Hände, Arme, Füße und das Gesicht. Die neuseeländischen Maori nennen Wasser einfach nur „Majestät“, und im Taoismus ist es das Symbol für Weisheit. Das Foto wurde in der moldauischen Region Transnistrien aufgenommen. Dort findet selbst im Winter die russisch-orthodoxe Taufe nach einem strengen Ritual im Freien statt.

Herr Böhme, ist eine Hochkultur ohne geregelte Wasserversorgung vorstellbar?

Ohne Wasser ist überhaupt keine Kultur denkbar. Der Mensch besteht aus Wasser. Er braucht es jeden Tag. Nicht nur zum Trinken. Sondern auch für Hygiene, Logistik und die Produktion von Nahrung und Gütern. Denken Sie an Ackerbau oder die Ausbeutung der Wasser-Biomasse durch die Fischerei. Der Mensch hat deshalb immer, von der einfachsten Stammessiedlung bis zur Industriestadt, die Nähe zum Wasser gesucht. Es liegt in unserer Art. 

Poseidon im antiken Griechenland, Sobek in Ägypten, der Regengott der Mayas – in den meisten Kulturen gibt es Wassergottheiten. 

Der Mensch ist von den Grundelementen Feuer, Erde, Luft und Wasser abhängig. Diese totale Abhängigkeit verarbeitet er, indem er diese Elemente symbolisch belegt und psy-chisch erlebt. Die Göttergestalten geben dem Naturphänomen ein Gesicht. Wasser lieferte ja nicht nur den Versorgungshintergrund für frühe Zivilisationen, sondern ist das Lebendige schlechthin: Man kann es sich einverleiben, man kann darin schwimmen, eintauchen und ertrinken. 

Man spricht von der Bändigung des Feuers, der Bearbeitung der Erde. Hat der Mensch das Wasser domestiziert?

Man kann das Wasser nicht beherrschen. Das erleben wir bei einem Tsunami oder auch, wenn das Wasser mal ganz fehlt und Dürren folgen. Unsere Technologien erlauben uns nur kleine Schritte, wir können etwa mit Brunnen die Trinkwasserversorgung verstetigen oder uns mit Deichen vor dem Meer schützen. Wassermanagement und -verkehrstechnik stellten für die ersten Hochkulturen einen großen Evolutionssprung dar. Aber im Umgang mit dem Wasser merkt der Mensch, dass seine Fähigkeiten, sich natürliche Ressourcen anzueignen, nicht unbegrenzt sind.

In welche Kapitel unterteilen Sie die Kulturgeschichte des Wassers? 

Wer den Fluss kontrolliert, beherrscht auch das Land. Das Alte Ägypten oder die Hochkulturen der Euphrat-Tigris-Region nennen wir „potamische“ Kulturen, also Gesellschaften, die mit dem Fluss, griechisch „potamós“, produktiv umgehen. Um 500 vor Christus verlagerte sich das Machtzentrum in den Mittelmeerraum, wo Binnenmeerkulturen die Macht übernahmen: Phönizier, Griechen, Römer. Zu dieser Zeit ent-standen die ersten Großstädte. Fragen der Wasserwirtschaft waren dabei von elementarer Bedeutung. Sauberes Wasser zu haben ist ein kulturelles Bedürfnis ersten Ranges – und einer Million Menschen Zugang dazu zu verschaffen ist keine Kleinigkeit. In Rom gab es das erste komplexe Ver- und Entsorgungssystem, gebaut aus Aquädukten, Kanälen und Kloaken. Das hat man gemerkt, als die Errungenschaften der römischen Zivilisation verloren gingen. Im Mittelalter waren die hygienischen Bedingungen in Städten und Burgen schrecklich. Es gab große Epidemien. Das Wasser wurde zum Medium der Ansteckung und des Todes. 

Kann man den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft unmittelbar an ihrem Umgang mit Wasser ablesen? 

Blicken wir doch auf die gegenwärtige Welt: Alle hoch entwickelten Länder haben hoch entwickelte Wasserkulturen. Das geht von Wellness-Anlagen bis zur Wasserversorgung im Wolkenkratzer. Die unterentwickelten Länder haben extreme Wasserprobleme. Die multidimensionale Beherrschung des Wassers ist die Basis für gesellschaftliche Evolution. 

1739 wurde in Wien die erste moderne Kanalisation gebaut. War das eine Voraussetzung für unsere heutige Gesellschaft? 

Die Administration musste die Kanalisation gegen den massiven Widerstand der Stadtbewohner durchsetzen. Plötzlich mussten die Menschen für Wasser bezahlen, das sie in den Jahrhunderten zuvor kostenlos aus dem Fluss geschöpft hatten. Und ihre Scheiße hatten sie oft sogar an die Bauern verkauft. Die Modernisierung des Wasserkreislaufs schien deshalb erst einmal ein Negativgeschäft zu sein, war aber eine Revolution: die strikte Trennung von Ver- und Entsorgung, mit dem Badezimmer und der Küche als Umschlagplatz, in dem sich Zu- in Abwasser verwandelt. Es ist kein Zufall, dass im 19. Jahrhundert der Netzbegriff als Organisationsmodell Fuß gefasst hat. Beim Aufbau aller Netze – Elektrizität, Rohrpost, Telefon, Gas und Verkehr – haben wir von dem profitiert, was wir vom Wasser gelernt haben. Die Industriegesellschaft ist vom Wasser viel abhängiger als ein Bauerndorf. Denken Sie an Bergwerke, Textilmanufakturen. Nicht ohne Grund liegen alle Industriestädte an großen Flüssen. 

Die technische Entwicklung brachte aber auch beispiellose Wasserverschmutzung mit sich.

In der Moderne betrachten wir Wasser nicht mehr als Naturprodukt oder Heiligtum, sondern als komplexen Stoff, als Produktionsmittel. Diese Denkweise führt in letzter Konsequenz zu ökologischer Zerstörung. Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in Elbe und Rhein kaum mehr Fische. Aber das ist kein unumkehrbarer Prozess. Der Mensch muss sich immer erst bedroht fühlen, um etwas für die Umwelt zu tun. 

Fließendes Wasser gilt in Industrieländern als Selbstverständlichkeit. Aber in Megacitys wie São Paulo, Lagos oder Bombay hat nur jeder vierte Einwohner Zugang zu sauberem Wasser. 

Der Stoff- und Wasserkreislauf in diesen Städten ist eine Katastrophe und kaum mehr organisierbar. In reichen Vierteln nehmen die Bürger die Bereitstellung von öffentlicher Sicherheit, Wasserversorgung und Müllabfuhr selbst in die Hand. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, seinen Bürgern die grundlegenden Reproduktionsbedingungen zu garantieren. Die ökologische Verwahr-losung der Städte führt irgendwann zu einem massiven Sicherheits- und Gesundheitsproblem. Ein klarer Rückschritt unserer Zivilisation. 

Hartmut Böhme, 62, ist Professor am Lehrstuhl für Kulturtheorie der Humboldt-Universität in Berlin. Zu seinen Gebieten gehört das Verhältnis der Menschen zur Natur und zum Wasser.