Später wurde N'Sondé mit seinem Debütroman „Das Herz der Leopardenkinder“ bekannt. Darin beschrieb er die Zerrissenheit vieler Jugendlicher mit Migrationshintergrund und die Gefahr der Radikalisierung. Er ist also genau der Richtige, um bei einem Spaziergang durch Paris über die Verwerfungen in unserem Nachbarland zu sprechen

Treffpunkt Pressekiosk an der Metrostation Barbès- Rochechouart im Norden von Paris. Später Vormittag, die Brasserie an der Ecke strahlt in Weiß. Ums Eck hängen junge Männer vor Imbissen und Handyläden herum. Hinter dem Kiosk parken zwei Polizeieinsatzwagen. Genau in dem Moment, als Wilfried N’Sondé vor dem Kiosk auftaucht, stellen sich zwei Zivilfahnder zwei jungen Männern in den Weg. Die Ausweise, bitte. Irritierte Blicke. Der Schriftsteller in grauer Jeans und offenem Wintermantel zuckt mit den Schultern. „Immer was los hier“, sagt er.

fluter: Seit den Jugendkrawallen 2005 kennt alle Welt das Wort „Banlieue“ als Inbegriff einer tristen Vorstadt, in der die Menschen kriminell werden, weil sie sonst keine Perspektive haben. Sie lehnen den Begriff ab. Warum?

N’Sondé: Weil das Wort „Banlieue“ ursprünglich alle Viertel außerhalb der Stadt bezeichnet, auch die wohlhabenderen. Heute aber meint man damit etwas anderes: das arme Viertel, in dem Personen mit Migrationshintergrund leben. Schwarze, Araber, sichtbare Minderheiten. Deswegen ist mir das Wort zu wenig trennscharf. Es leben ja rund zehn Millionen Menschen rings um Paris, es gibt auch viele gute Viertel außerhalb der Stadt.

Sie sind selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Vorstadtsiedlung Le Mée, im Südosten von Paris, aufgewachsen. War die Stimmung dort so, wie Sie es in Ihrem Roman beschreiben – also voller Stress und Gewalt?

Ja, es wurde dort gedealt, die Samstagabendpartys endeten oft mit Schlägereien. Aber das Schlimmste war eigentlich die Langeweile. Das Kino war eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Wir hatten aber eh kein Geld dafür. Es gab einfach nichts zu tun.

Ist diese Langeweile, diese große Leere im Leben, auch heute noch ein Grund für die hohe Kriminalität in diesen Vierteln?

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich spielt eine große Rolle dabei. Die Folge davon sind Armut und Perspektivlosigkeit. Es ist ein Gefühl, wie nicht zu existieren, niemand zu sein. Es ist ziemlich schlimm, wenn man jung ist und nicht genügend Geld hat, um an einer kapitalistischen Gesellschaft teilzuhaben, in der alles Geld kostet.

Wie kann man die abgehängten Jugendlichen wieder mitnehmen in eine bessere Zukunft?

Man muss ihnen zeigen, dass sie etwas wert sind. Damit kann man viel bewegen. Man muss sich für sie interessieren, sie fragen: „Wer bist du?“, und: „Was hast du zu sagen?“. Man muss ihnen klarmachen, dass sie kein Dreck sind.

Mittlerweile werden die riesigen Hochhausriegel der 1960er-Jahre zum Teil wieder abgerissen und durch kleinere, offenere Bauten ersetzt.

Die Stadtplaner von damals haben sich geirrt. Ursprünglich waren die Hochhäuser eine gute Idee, ein schneller Ersatz für die Slums, in denen die Migranten zunächst hausten. Aber vieles hat man nicht richtig bedacht: Verkehrsmittel, Parkplätze, Sportanlagen für die Kinder. Auch dass sich Probleme verschärfen, wenn es keine Durchmischung mit der Mehrheitsgesellschaft gibt. Man darf keine Gettos mehr schaffen.

Das war ein Anschlag auf die Art, wie wir leben, hieß es nach den Pariser Attentaten vom November 2015 oft. Gemeint waren damit Toleranz und Freiheit. Aber ist das Leben in Frankreich nicht auch durch extreme soziale Gegensätze geprägt? Hier die Elite und dort die Abgehängten.

Diese Kluft gibt es. Menschen mit dunkler Hautfarbe werden zum Beispiel bei Polizeikontrollen oder Bewerbungen diskriminiert. Neulich wollte ich meinen Ausweis verlängern und fragte einen Beamten, ob ich bei ihm richtig sei. Er hat mich gefragt, ob ich Franzose sei. Das hatte aber mit meiner Frage gar nichts zu tun. Ich habe mich dann mit ihm gestritten.

Das heißt, die weiße Mehrheitsgesellschaft akzeptiert Sie immer noch nicht als echten Franzosen, weil Sie schwarz sind?

So hart würde ich das nicht sagen. Aber es gibt immer noch zu viele, die nicht verstehen, dass Franzosen heutzutage alle Gesichter der Welt haben können.

Eine Weigerung, die ja angesichts der Kolonialgeschichte paradox ist. Denn dazu gehört auch, dass schwarze Menschen aus den Kolonien nach Europa verschleppt wurden und bereits im Ersten Weltkrieg aufseiten der Franzosen gekämpft haben.

Schon mein Großvater war Franzose, meine Onkel waren Fallschirmspringer in der französischen Armee. Unsere gemeinsame Geschichte ist alt, sie hat schreckliche Seiten wie die Gräuel der Kolonialzeit, aber auch positive. Frankreich hat geholfen, Nazideutschland zu besiegen. Damals waren in seiner Armee Schwarze, Araber und Muslime. Das vergessen die Menschen heute leicht.

Wilfried N’Sondé führt durch sein Viertel. Ein Gang durch die schmalen Straßen, Gewusel. In einer Gasse werden Rinderbeine entladen. N’Sondé zeigt hierhin und dorthin, erklärt: „Die Pakistaner verkaufen Erdnüsse, Frauen aus Zentralafrika Nsafu-Früchte. Algerier und Marokkaner bieten hintendurchs Bahnhofsgitter illegale Zigaretten an. „Wenn die Polizei kommt“, sagt N’Sondé, „hauen alle ab.“

In Ihrem Debütroman wird ein Junge vom Kleinkriminellen zum Nachwuchsterroristen. Warum radikalisieren sich so viele junge Menschen in Frankreich?

Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Das Problem ist neu und komplex. Wir müssen uns Zeit nehmen. All jene, die schnelle Lösungen anbieten, etwa, dass das ein Problem des Islam sei, machen es sich viel zu einfach.

Aber stimmt das denn nicht? Die Pariser Attentäter hatten alle einen arabischen beziehungsweise muslimischen Hintergrund. Sie riefen bei ihren Taten „Allahu akbar“ und beriefen sich auf den Koran.

Sehen Sie, wenn wir beide uns zusammentun und morgen im Namen des Christentums Leute in die Luft sprengen – ist das dann ein Problem aller Christen? So viele Muslime sahen sich genötigt, sich nach den Anschlägen zu rechtfertigen, dabei hatten sie mit diesen Verbrechern überhaupt nichts zu tun.

Etwa 10.500 Menschen gelten in Frankreich als „Gefährder“, die meisten von ihnen sollen islamistischen Bewegungen angehören oder in Kontakt zu ihnen stehen.

Wie viele Millionen Moslems gibt es in Frankreich? Wie viele von ihnen radikalisieren sich nicht? Millionen. Selbst wenn es 10.000 Leute sind, die radikalisiert sind, ist es immer noch eine krasse Minderheit. Wir führen die falschen Diskussionen. Ein Beispiel: Die gewaltsamen Jugendproteste 2005 in Frankreich – wie viele Mädchen waren da dabei? Wahrscheinlich nur ein paar wenige. Genau. Es ist ein geschlechtsspezifisches Problem! Junge Männer in einem gewissen Alter machen Probleme. Es ist so naheliegend. Aber bisher hat das niemand in die Diskussion eingeführt. Kein Einziger. Das sagt schon sehr viel aus.

Reicht ein strenger Vater wie in Ihrem Fall, um nicht auf die schiefe Bahn zu kommen?

Es hilft auf jeden Fall. Im Ernst: Mit den Vätern müssen wir auch reden. In Berlin klagte mir ein Vater sein Leid: „Mein Sohn kriegt doch alles, was er will. Warum stellt er nur so viel an?“ Er kam gar nicht darauf, dass es vielleicht viel wichtiger wäre, nicht immer weg zu sein. Dem Sohn zu sagen und vor allem zu zeigen, wie man gut durchs Leben geht, statt ihm alles zu kaufen, was er will.

Müssen das Problem also die Elternhäuser lösen? Oder die Streetworker?

Wir alle müssen dazu beitragen. Ich, Sie. Die Lehrer. Die Medien. Die französische Gesellschaft. Es sind nicht nur diejenigen interessant, die am lautesten schreien oder besonders cool tun. Alle gehören dazu, das müssen wir viel mehr betonen. Auch die Jugendlichen aus den Vorstädten selber im Übrigen. Sie fühlen sich nicht als Franzosen – aber sie sind es doch! Sie sollten etwas daraus machen.

Sie selbst haben es aus der Vorstadt geschafft, haben an der Sorbonne Politik studiert, sind erfolgreicher Schriftsteller. Ist Frankreich also eine durchlässige Gesellschaft?

Nicht in allen Bereichen. Die Politik ist ein geschlossener Raum. Die französischen Politiker kommen fast alle aus derselben Eliteschule, der École Nationale d’Administration (ENA; siehe Artikel "Bleib doch sitzen" aus dem Heft Seite 49). In anderen Gebieten ist es schwierig, aber nicht unmöglich, sich aus einer unteren sozialen Schicht hochzuarbeiten. Ingenieur kann jeder werden, der gut ist in der Schule.

Mittagessen im knallgelb gestrichenen Restaurant „Francis Labutte“ ein Stück weiter im schicken Viertel Clignancourt. Hier gibt es keine Straßenhändler, keine Dealer an der Ecke. Ein paar Straßen weg, eine andere Welt. Abends ist Wilfried N’Sondé noch auf einen Empfang der Autorengilde eingeladen. Als Schriftsteller in Frankreich, sagt N’Sondé, „da ist man wer“. Von den Freunden von früher aber seien ihm nur einige wenige geblieben. Als er von den Lesetouren erzählte, den Auslandsreisen und feinen Hotels, fragten ihn manche: „Gibst du jetzt an?“

Heute leben Sie mitten in Paris. Als junger Mann aber gingen Sie ins Exil nach Deutschland, erst 2015 kehrten Sie zurück. Warum?

Es war damals nicht so leicht, als schwarzer Franzose in Paris einen Mietvertrag zu bekommen. In Berlin war das einfacher. Dort war ich kein Schwarzer, sondern Pariser. Das war gleich etwas anderes.

Und heute? Spielt die Hautfarbe noch eine Rolle bei der Wohnungssuche?

Es ist nicht mehr so schlimm. In manchen besseren Vierteln ist es aber noch das Gleiche. Es sei denn, man hat sehr, sehr viel Geld. Dann öffnen sich eh alle Türen …

Verläuft die Grenze also eher zwischen oben und unten und weniger zwischen den Hautfarben?

Vielleicht leben wir in einer Welt, in der die Herkunft erst keine Rolle mehr spielt, wenn du reich bist und Erfolg hast. Franck Ribéry, einer der Stars von Bayern München, ist Moslem, aber keinen Arsch interessiert’s. Zidane? Ich nehme an, er ist Moslem. Als Jugendlicher im Armenviertel von Marseille war er noch ein Araber. Jetzt ist er nur noch: Zidane.

Égalité, die Gleichheit, ist einer der Grundpfeiler der französischen Republik. Doch der Front National von Marine Le Pen kratzt an der Macht. Warum denken so viele Franzosen, sie wären gleicher als andere?

Der FN sagt: Die Franzosen zuerst. Das ganze Land versteht: Dunkelhäutige und Araber raus. Sie tun so, als seien die keine Franzosen, obwohl sie einen Pass haben.

Ihre Familie wurde 1982 eingebürgert, unter der Regierung von François Mitterrand. Seitdem sind Ihre Eltern treue Wähler der Linken. Ist das auch am Ende der Amtszeit von Präsident Hollande noch so?

Stellen Sie sich vor, mein Vater, ein alter Linker, hat tatsächlich überlegt, den Front National zu wählen. Der FN war die einzige Partei in Frankreich, die die kongolesische Opposition ins EU-Parlament nach Brüssel eingeladen hat. Mein Vater wird sicher wieder seine Sozialisten wählen, aber allein sein Gedankenspiel hat mich schockiert. 

Was erwartet Frankreichs Jugend nach der Wahl?

Ich fürchte, es wird sich nicht viel tun. Ich sehe keinen Hoffnungsträger, keinen einzigen unter all den Kandidaten. Jemanden, der sagt, dass wir vielleicht am Ende gar nicht glücklicher werden, wenn wir nur immer mehr besitzen. Wir brauchen eine Vision, ein gemeinsames Projekt, an dem viele teilnehmen können. Halten Sie mich für naiv, aber ich glaube an die Menschheit. Vor 75 Jahren haben sich Deutsche und Franzosen gegenseitig umgebracht. Heute sitzen wir hier, beste Freunde.

Lange noch wird diskutiert auf der überdachten Außenterrasse des Restaurants: über Globalisierung, Demokratie, das Leben. Der Kellner hat den Heizstrahler angemacht. Am Ecktisch sitzt einer, raucht, trinkt Bier und liest in seinem Buch. Die Studentinnen aus dem Viertel sind da, reden, lachen. „Wir müssten viel stolzer sein auf das, was wir schon erreicht haben“, sagt Wilfried N’Sondé und zeigt nach draußen zur vollen Kreuzung. Mütter mit Kinderwagen. Mopeds. Küsschen, Umarmungen. Eine wunderbare Pariser Abendstimmung macht sich breit. Die Nacht ist jung, die Welt keine schlechte, ihre Probleme scheinen weit weg. Und am nächsten Morgen geht ein Mann ins Shoppingcenter am Louvre, er schwingt zwei Macheten und ruft „Allahu akbar“.

Wilfried N'Sondé wurde 1969 in der heutigen Republik Kongo geboren. 1973 siedelte seine Familie in einen Pariser Vorort über. Lange lebte er in Berlin, wo er mit sozial benachteiligten Jugendlichen arbeitete.