Eine Straße soll verbinden – sie kann aber auch trennen. Am westlichen Stadtrand von St. Petersburg verläuft eine neue Autobahn, die vielen Einwohnern der Metropole eine schnellere Fahrt ermöglicht. Rund 210 Milliarden Rubel, nach derzeitigem Kurs etwa 3,1 Milliarden Euro, hat die 47 Kilometer lange Mautstrecke gekostet, auf bis zu acht Spuren rauscht der Verkehr. Diese Straße der Superlative führt durch Tunnel, über Brücken und an manchen Stellen auf 50 Meter hohen Pfeilern über Wohngebiete hinweg. Dreigeschossige Bauten wirken unter ihr wie Spielzeughäuser.

Aus einem dieser Häuser – gelber Putz rieselt, Scheiben sind eingeschlagen, Türen gar nicht mehr vorhanden – erklingt an diesem Tag Musik. Ein scheppernder Technobeat verrät, dass dort Leben herrscht. Dabei wurden alle Menschen aus diesem Haus umgesiedelt – weil die Hochtrasse lärmt und Öl von ihr herabtropft.

An die Wand gepinselt steht da: „Kapelle des Guerilla-Urbanismus“

In einem der Zimmer, gesäumt von Schulheften und zerbrochenen Tassen, steht mit frischer Farbe auf Russisch an die Wand gepinselt: „Kapelle des Guerilla-Urbanismus“.

Ein Mann mit dreckiger Jacke und zerzaustem Haar steht davor und reibt sich die Hände, weil es so zugig ist. „Ich wohne hier nebenan“, erklärt er. „Was dieser Urbanismus sein soll, weiß ich gar nicht, ehrlich gesagt. Aber es ist sehr gut, dass hier endlich jemand etwas macht. So eine Schande, diese Häuser verfallen zu lassen!“

Ja, jemand macht etwas hier. Etwa 15 junge Menschen haben das Gebäude für einige Tage besetzt, einzelne Räume ausgefegt, einen davon in eine Galerie verwandelt. Sie haben touristische Karten der „Kanonerka“ genannten Insel entworfen, auf der das Gebäude liegt. Sie ist, nur durch einen schummrigen Tunnel mit der zaristischen Prachtstadt St. Petersburg verbunden, von Fabriken und Hafenanlagen geprägt. Knapp 5.000 Menschen sind es, die hier, weitgehend abgeschnitten vom modernen Russland, ihr Dasein fristen. Vor allem die Jugendlichen von Kanonerka aber wollen mehr. Immer wieder kommen sie zum Haus und planen mit den Aktivisten, wie sie das Gebäude künftig als selbstverwaltetes Jugendzentrum nutzen können.

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Olga

Olga Poljakova kämpft mit für die Zurückeroberung des öffentlichen Raums. Dass sie in diesem Jahr bereits zwölf Tage im Gefängnis verbringen musste, hat aber andere Gründe. Sie hat an Protesten teilgenommen, zu denen der Oppositionelle Alexej Nawalny aufgerufen hatte

Die Initiatoren der Aktion sind Lilia Voronkova und Oleg Pachenkov. Sie arbeiten beim Centre For Independent Social Reserach, einer Nichtregierungsorganisation, und mit ihrem „Dialog am Wasser“ haben die beiden Sozialforscher junge Menschen aus ganz Russland in St. Petersburg zusammengebracht. „Es geht darum, städtischen Raum neu zu denken“, erklären sie, während sie den Aktivisten, die gerade großformatig „Wir sind keine Maschinen“ an die Hausfassade gepinselt haben, Tüten voller Trockenobst und Brötchen bringen. Besonders wichtig ist den Wissenschaftlern, „dass wir keine festen Zielvorgaben machen“. Es gehe darum, die Anwohner der leer geräumten Gebäude am Prozess zu beteiligen und ihnen bewusst zu machen, dass sie ihre Stadt mitgestalten können. Praktisch funktioniert das in diesen Tagen vor allem dadurch, dass die Aktivisten Passanten ansprechen. Grundsätzlich halten die Wissenschaftler aber auch Beteiligungsmodelle im Internet für sinnvoll.

Was für manche Ohren einfach wie zeitgemäße Bürgerbeteiligung klingt, ist in Russland ein heikler politischer Akt. Denn der Zerfall der Sowjetunion hat auch zu einem Zusammenbruch des öffentlichen Raumes geführt. Einerseits wurden viele zuvor öffentliche Parks, Plätze und Wege privatisiert, andererseits ließen die in den 90er-Jahren verarmten russischen Städte viele öffentliche Anlagen verfallen. Bei einer gleichzeitig schwachen Zivilgesellschaft sowie einem starken Staat ergibt sich so ein Ohnmachtsgefühl des Einzelnen. „Wer im Kleinen nichts gegen die Räumung seines Hauses in seiner Straße tun kann, wird im Großen nicht die politischen Verhältnisse infrage stellen“, erklärt eine der Teilnehmerinnen der Hausbesetzung auf der Insel Kanonerka. „Das Erwecken eines bürgerlichen Bewusstseins ist in Russland ein Akt der Rebellion.“

Manchmal funktioniert sie also, die russische Zivilgesellschaft

Dabei passierte in Russland beim Städtebau in den vergangenen Jahren eine ganze Menge. Gerade erst wurde in Moskau unweit des Kremls ein 13 Hektar großer Park eröffnet,  vor allem in der Hauptstadt und in den Großstädten entstehen Radwege und Fußgängerzonen. Auch wurde in Moskau der Abriss Tausender Wohnblöcke aus der Nachkriegszeit beschlossen. Die Moskowiter sollen in modernere Häuser umziehen – und protestieren energisch dagegen, befürchten sie doch, in Randbezirke umgesiedelt zu werden. Manchmal funktioniert sie also, die russische Zivilgesellschaft.

Die Insel Kanonersky

Ganz schön von oben herab: am Stadtrand von St. Petersburg wurde eine neue Autobahntrasse quer über Wohnhäuser hinweg errichtet, deren Bewohner jetzt mit Lärm und herabtropfendem Öl belästigt werden

 

„Problematisch ist, dass in Russland beim Städtebau Wohltaten meistens von oben herab verordnet werden“, finden Voronkova und Pachenkov. Das sei zwar nicht nur ein russisches Phänomen, denn auch in Deutschland würden Großprojekte teilweise so gestaltet, wie etwa die Elbphilharmonie in Hamburg, deren Kosten massiv aus dem Ruder gelaufen sind. Oder das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 – gegen das sich dann aber, im Gegensatz zu Hamburg, entschiedener Protest geregt hat. In Russland jedoch seien die Möglichkeiten der Bürger, solche Projekte mitzugestalten oder in ihrem Sinne zu ändern, oft nur „pro forma gegeben“, glauben die Experten.

Damit sich das ändert, steht der 24-jährige Wladislaw Dreko an einem Kanal und malt Schilder, auf denen steht: „Hier darf man ...“ Diese Schilder stellt er dann entlang des Kanals auf und spricht Passanten an, ob sie die Leerstelle ausfüllen mögen. Das alles passiert auf einer anderen Insel im Stadtgebiet von St. Petersburg, für die sich die Aktivisten ebenfalls als Aktionsfläche entschieden haben. Auf der „Karpovka“ wurde vor kurzem ein Uferweg von der Stadt freigeräumt, der für über zwei Jahrzehnte privat genutzt worden war.

Die Polizisten nicht als Gegener sehen – sie sind auch Bürger dieses Landes

Nun liegt er aber weitgehend brach – „das wollen wir ändern“, sagt Dreko, der sein Wirken als „sozialen Protest“ bezeichnet. Er selbst stammt aus Archangelsk im Nordwesten Russlands. „Dort gibt es leider kaum urbanistische oder zivilgesellschaftliche Aktivität.“

Andere Aktivisten haben ein Floß gebaut, mit dem sie Petersburger Bürger über den Kanal transportieren. Sie haben einen Samowar aufgestellt, den sie mit Tannenzapfen und Birkenrinde anheizen, um Tee für Passanten zu kochen. Sie haben Aufkleber entworfen, auf denen „Ich liebe meine Karpovka“ steht. Wegen einer nahen Hochschule kommen immer wieder Studenten vorbei, um die Aktivisten zu unterstützen und über den Kanal zu schippern. „Ich habe gar nicht gewusst, dass dieser Uferweg existiert!“, sagen viele von ihnen.

Und einmal kommt auch die Polizei. Ein Beamter will wissen, was das hier für eine Veranstaltung sei, sie sei doch sicher nicht angemeldet. Die Aktivisten erklären, dass sie bei den Bürgern Interesse für ihre Stadt wecken wollen, die Polizisten schauen kritisch, den angebotenen Tee lehnen sie ab. Einer von ihnen sagt zu den Aktivisten: „Na gut, ihr dürft weitermachen. Aber keine politischen Losungen hier.“ Die Aktivisten nicken. „Keine Politik!“, sagt der Beamte noch mal.

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Floss (Foto: Soya Olya)

Eine Floßfahrt über den Kanal, eine Tasse Tee aus dem Samowar – wer den Bürgern ein bisschen was bietet, gewinnt sie vielleicht auch für größere politische Anliegen

(Foto: Soya Olya)

„Wir wollen die Polizisten nicht als Gegner betrachten, sie sind auch Bürger dieses Landes“, sagt Irinia Pawlowa diplomatisch. Die 32-Jährige hat sowohl bei der Aktion mit dem Floß als auch beim Gespräch mit den Polizisten in vorderster Reihe gestanden, „aber wir wollen keine Hierarchie aufbauen“, erklärt sie. Wenn überhaupt, erlaube der Ansatz der Aktivisten „horizontale Anführer“. Irina setzt dann ihre Brille ab, um dem Feuer im Samowar neues Leben einzupusten und über die Probleme des heutigen Russlands zu sinnieren. „Es gab zu Sowjetzeiten ja die unterschiedlichsten Formen von Zusammenarbeit, auch wenn viele aufgezwungen waren. Danach haben sich aber leider viele Menschen zu Misanthropen entwickelt, sie kämpfen nur für sich.“ Und während Irina das sagt, rast plötzlich hinter ihr eine Limousine mit quietschenden Reifen über einen Radweg. Nein, leicht ist die Mission nicht, die sich die Aktivisten vorgenommen haben.

Der „Dialog am Wasser“ ist von Culture goes Europe koordiniert worden, einer international agierenden soziokulturellen Initiative aus Erfurt. Deren Chef Zafar Saydaliev ist auch in St. Petersburg vor Ort. „Es ist schön zu sehen, wie Ideen entstehen und gleich mehrere Orte neu belebt werden“, sagt er. „Die Hoffnung ist natürlich, dass es nachhaltig ist, dass etwas bleibt.“ Finanziert wird der Dialog vom deutschen Auswärtigen Amt und vom Freistaat Thüringen mit insgesamt 62.000 Euro. Davon sind die Teilnehmer auch nach Deutschland gereist, um sich über dortige Top-down-Projekte wie die HafenCity in Hamburg zu informieren, aber auch um sich mit urbanen Projekten vertraut zu machen, die auf Bürgerinitiativen beruhen – etwa der Verein Flussbad Berlin, der einen Nebenarm der Spree zur Badestelle umbauen will. Über die Energie und den hohen Organisationsgrad selbst kleiner Initiativen in Deutschland äußern sich die russischen Guerilla-Urbanisten begeistert.

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Über die Köpfe der Bürger hinweg: Eine Auffahrt zu der neuen Autobahn, die man einfach über ihre Insel bebaut hat, wurde den Bewohnern der Kanonerka verweigert

Ein gewichtiger Unterschied zwischen der Arbeit in Deutschland und Russland ist natürlich, dass manche aus dem Ausland finanzierten zivilgesellschaftlichen Initiativen von der russischen Regierung als das Wirken „ausländischer Agenten“ betrachtet werden. Voronkova und Pachenkov erklären dazu, dass sie sich „an die gesetzlichen Vorgaben halten“. Das heißt beispielsweise, in allen Publikationen auf ihren Status hinzuweisen. Ansonsten würden sie einfach weiterarbeiten und sich „nicht beirren lassen“, sagen sie. Fast scheint es, als wäre die bereits erfolgte Stigmatisierung von Regierungsseite für die Aktivisten auch eine Chance: Ist der Ruf erst ruiniert, engagiert es sich ganz ungeniert. Wobei die beiden darauf hinweisen, dass manche Organisationen nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten, aus Angst, auch in den Fokus der Behörden zu geraten. Dabei ist die Atmosphäre in St. Petersburg und Moskau noch deutlich liberaler als in der russischen Provinz.

Auf dem Weg zu einer aktiven Zivilgesellschaft – zu Bürgern, die ihre Stadt mitgestalten wollen

Wie viel es noch zu tun gibt in Russland auf dem Weg zu einer aktiven Zivilgesellschaft, zu Bürgern, die ihre Stadt als etwas begreifen, das sie mitgestalten können, zeigt sich in St. Petersburg auch an den offiziellen Bauten. Das neue Fußballstadion, errichtet für die Fußballweltmeisterschaft 2018, hat offiziell 673 Millionen Euro gekostet, Transparency International geht von über 800 Millionen Euro aus. Auch wenn es nicht das teuerste Stadion aller Zeiten ist, sondern nur eines der teuersten, trägt es bei den Menschen und in Medienberichten oft diesen unrühmlichen Titel. Aber für eine Abfahrt von der neuen Trasse im Westen St. Petersburgs hinunter auf die Insel Kanonerka wurde kein Geld bewilligt.

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 Teilnehmerin Olga Poljakova

Olga Poljakova will ihr Privatleben nicht vom politischen Aktivismus trennen – nicht einmal die Beisetzung ihrer Katze, zu der sie die anderen AKtivisten eingeladen hat

Im besetzten Haus auf der Insel unter der Hochtrasse haben die Aktivisten eine Beerdigung angesetzt. Die Katze der Teilnehmerin Olga Poljakova ist gestorben. Sie hat sie einäschern lassen, nun zieht ein Tross von einem Dutzend Menschen zur Spitze der Insel, um die Asche dort ins Meer zu schütten. Poljakova trägt eine lange Jacke gegen den kalten Wind, sie erklärt unterwegs, was diese Aktion mit dem Vorhaben zu tun hat, städtischen Raum neu zu denken: „Ich will nicht mein Leben vom Aktivismus trennen. Wir müssen das alles zusammendenken, so kann etwas Neues entstehen.“
Poljakova saß in diesem Jahr zwölf Tage im Gefängnis, weil sie an den Protesten im Sommer teilgenommen hatte, zu denen der Oppositionelle Alexej Nawalny aufgerufen hatte. Sie weiß, wie schwer Protest in ihrem Land umzusetzen ist. Als sie und die anderen mit der Urne am Ende der Insel ankommen, geht die Sonne schon rötlich schimmernd unter. Auf einem vorgelagerten kleinen Eiland weht eine russische Fahne. Die Aktivisten werden dafür kämpfen, dass neben ihr eine zweite Flagge auftaucht, ohne Nationalfarben, dafür mit den Worten: „Hier darf man ...“

Fotos: Egor Tsvetkov