Ohne Fair Play würde der Sport im Chaos versinken. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Foul und Fairness?

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich ergab das Los eine der politisch brisantesten Begegnungen, die sich damals denken ließen: Das Gruppenspiel zwischen Iran und den USA forderte den Weltverband und die französischen Behörden heraus. Als Schiedsrichter setzte die FIFA den Schweizer Urs Meier ein. „Vor dem Spiel war eine unerträgliche Anspannung zu spüren“, erzählte Meier. In der Vorbereitung waren die Organisatoren alle Krisenszenarien durchgegangen. „Wie reagieren die beiden Mannschaften? Was geschieht im Stadion? Wie sieht es aus, wenn das Spiel abgebrochen werden muss? Es gab so viele Fragezeichen für alle Beteiligten“, sagte Meier später.

Doch im Spiel war von Ressentiments nichts zu spüren. Mit jedem Problem hatte man gerechnet, wenn die Vertreter der Islamischen Republik auf die Elf des „Großen Satans“ treffen würden – nur nicht damit, dass die Sportler einander vor dem Spiel weiße Rosen überreichen und sich nach dem Abpfiff zum gemeinsamen Abschiedsfoto aufstellen würden. Die Iraner hatten das jederzeit faire Spiel übrigens mit 2:1 gewonnen. Ende 1998 verlieh die Fifa beiden Teams den Fair-Play-Preis. Die politischen Beziehungen zwischen den Ländern sind zwar weiter angespannt, der sportlichen Verständigung dient die Begegnung aber bis heute: Im April dieses Jahres hat der amerikanische Fußballverband das Nationalteam Irans zu einem Trainingslager in die USA eingeladen.

Fair Play kann also ein politisches Signal setzen. Andererseits: Was hatten die Spieler getan, was nicht selbstverständlich ist für zwei Fußballteams? Die Grundsätze des Fair Play im Sport sind zwar ebenso wie die Definition der Menschenrechte ein Resultat der westlich-abendländischen Kultur, doch sie haben universelle Geltung. Fair Play bleibt, den Wucherungen und dem Wahnsinn des Leistungssports zum Trotz, überall eine Grundlage des Wettstreits – ob es dabei um Fußball oder Curling geht oder um die afghanische Form des Polospiels (bei dem eine tote Ziege ins Tor befördert werden muss). Fair Play ist eine innere Notwendigkeit des Sports. 

Einer englischen Definition zufolge ist Fair Play in erster Linie ein instinktives Verhalten im Spiel und weniger eine Haltung gegen-über den Regeln. Das klingt nach einer sehr zuversichtlichen Auslegung der menschlichen Natur. Andererseits verzichtet man ja auch im echten Leben nicht bloß deshalb darauf, seinen nervigen Nachbarn zu erschlagen, weil es das Strafgesetzbuch verbietet, sondern weil man ein zivilisierter Mensch ist. Jan Ullrich, mittlerweile moralisch fragwürdig geworden, hat damals instinktiv fair gehandelt, als er 2003 bei der Tour de France auf den unverschuldet gestürzten Konkurrenten Lance Armstrong wartete und dieser dann an ihm vorbeizog. Armstrong gewann die Tour.

Selbstredend wird besonders in den Mannschaftssportarten ständig und mutwillig gegen Regeln verstoßen, das bedeutet aber nicht automatisch die Missachtung des Fair-Play-Gedankens. Die meisten Vergehen sind ja harmlose Verstöße. Die üblichen Fouls in Handball oder Fußball, die Rempeleien und auch die Prügeleien im Eishockey oder die Drängeleien im Motorrennsport – das sind Ordnungswidrigkeiten wie etwa das Falschparken, eine einkalkulierte Reibung im System. Hier unterscheiden sich Profi- und Laiensport auch gar nicht so wesentlich. Wenn das tolerable Limit überschritten und Fair Play als ethische Grundlage verletzt wird, dann ist das oftmals eine Frage der Gelegenheit und der spontanen Eingebung. Ein gutes Beispiel ist Diego Maradona, als er bei der WM 1986 im Viertelfinale den Ball mit der Hand ins englische Tor lenkte. Er führte zwar an, als „Hand Gottes“ ein Instrument des Allmächtigen gewesen zu sein – doch in Wahrheit wollte er wohl nur den unverhofften Treffer nicht zurückgeben.

Zur Verklärung des Themas – nach dem Motto „Früher, als das Fernsehen noch schwarz-weiß sendete und die Profis keine Millionen verdienten, war Sport noch sauber und fair“ – gibt es im Übrigen keinen Grund. Es ist keine Frage der Zeit und ihres spezifischen Geistes, sondern vor allem eine Frage des Charakters, ob ein Sportler/Spieler Anstand zeigt und dafür auch bereit ist, auf einen Vorteil zu verzichten. Acht Jahre nach Maradona hat Bayern Münchens Verteidiger Thomas Helmer keinen guten Charakter offenbart, als er durch sein sogenanntes Phantomtor in die Geschichte einging. In der 24. Minute im Spiel gegen Nürnberg hatte Helmer eine Riesenchance verstolpert, er hatte den Ball gegen das Außennetz geschossen. Doch plötzlich brach unter seinen Mitspielern Jubel aus – Schiedsrichter Osmers hatte ein Tor erkannt und wies zum Anstoß. Anstatt zu gestehen, ließ Helmer sich feiern.

Ohne ein prinzipiell geachtetes Fair Play, das steht fest, herrscht im Sport Anarchie – und dies nicht im Sinne einer paradiesischen Freiheit von Regeln und Zwängen. Sondern im Sinne von Chaos.