Noch während ich mit meiner Mama telefoniere, überkommt mich ein beschissenes Gefühl. Wie wenn man als Kind was angestellt und es noch keiner bemerkt hat, der Moment, in dem es alle bemerken, aber unmittelbar bevorsteht. Schlechtes Gewissen, gepaart mit ein bisschen Angst. Dabei gibt meine Mama mir gar keinen Anlass. Sie fragt nicht, wann ich wieder mal nach Hause komme oder warum ich mich so lange nicht gemeldet habe oder wann ich vorhabe, meine Schulden zurückzuzahlen. Sie erzählt, was gerade so los ist zu Hause.

Jetzt lacht sie über sich und die Oma am Telefon. Ich lache auch. Und kriege dieses Gefühl

Meine Eltern bauen das Haus um. Kinderzimmer anders nutzen und so. Tapeten abziehen, spachteln, streichen. Meine Oma sei vorbeigekommen, erzählt die Mama, und war nicht davon abzuhalten, beim Spachteln zu helfen. Sie wollte mit dem Spachteln gar nicht mehr aufhören, obwohl meine Mutter längst keine Lust mehr hatte. „Da hab ich an dich gedacht“, sagt sie. „Du hast recht gehabt. Ich werde alt.“

Wenige Wochen vorher haben meine Eltern mir beim Umzug nach Berlin geholfen. Da war meine Mutter der Drill Instructor, und ich habe gesagt: „Du bist schon wie die Oma.“ Jetzt lacht sie über sich und die Oma am Telefon. Ich lache auch. Und kriege dieses Gefühl.

Ein normales Telefongespräch? Ja. Aber auch: ein Dilemma meiner Generation, der viel beschriebenen und noch mehr verschrienen Generation Y. Unsere Eltern werden älter, irgendwann sogar alt. Und dann? „Ich kann auch helfen“, sage ich ins Telefon, „wenn ich an Weihnachten nach Hause komme.“ An Weihnachten? Sehr witzig. Da ist längst alles fertig. Sie erzählt weiter. Vom Papa, der gerade beim Opa ist, zum Laufenüben nach dem Schlaganfall. Vom anderen Opa, der gestern nicht ans Telefon gegangen ist. Sie ist dann hingefahren, um sicherzugehen, dass er nicht wieder gestürzt ist. Meine U-Bahn kommt, wir legen auf.

Was, wenn mein Papa irgendwann mal nicht ans Telefon geht? Und ich vier Stunden und 32 Minuten ICE-Distanz weit weg wohne? Oder noch weiter? Wer weiß, wo ich in zwanzig Jahren wohne? Ich jedenfalls nicht. Was, wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird? Wer übt dann mit ihm das Laufen? Ich dachte die längste Zeit, in Deutschland sei die Pflege alter Menschen irgendwie geregelt. Pflegeversicherung, oder? Jetzt höre ich, wie meine Mutter und mein Onkel dafür kämpfen, dass mein Opa die richtige Pflegestufe bekommt. Mein Opa weiß nicht, wie man Einspruch gegen einen abgelehnten Antrag einlegt. Er kann seine Situation auch nicht auf Bürokratie-Deutsch erläutern, wenn die Gutachterin mit dem Klemmbrett vor ihm auf dem Sofa sitzt. Können Sie noch alleine auf die Toilette gehen? Ja, klar. Er stolpert dabei halt manchmal über die einen Zentimeter hohen Türleisten und bleibt dann liegen, aber das geht diese Fremde ja nichts an, denkt er. Wer soll neben meinen Eltern sitzen, wenn die mit dem Klemmbrett bei ihnen auftaucht?

Die Generation Y wird sich überlegen, ob sie sich so eine „Tortur“ antut

„Dezentrales Leben“ nennt das der Generationenforscher Klaus Hurrelmann. Classic Generation Y. „Die Eltern wohnen in einer völlig anderen Region als man selbst, die Reise dahin dauert viele Stunden“, sagt er. Ich habe Hurrelmann für wissenschaftlichen Input angerufen. Es passiert etwas, das mir bisher selten passiert ist, wenn ich mit Wissenschaftlern gesprochen habe: Er relativiert meine Fragen nicht. Im Gegenteil: „Wird Ihre Generation auch aufopferungsvoll diese Rolle spielen, die heute vor allem Frauen noch bei der Pflege der Eltern spielen? Aus heutiger Sicht – wenn wir die Verhaltensweisen aus Studien fortschreiben – ist ganz klar, sie würde sagen: Das überlege ich mir, ob ich mir so eine Tortur antue.“

Fünf Millionen Deutsche mehr als heute werden im Jahr 2030 über 65 Jahre alt sein, schreibt der Spiegel. Die Eltern der Generation Y. Die Babyboomer. Unsere Eltern. Sie werden gut ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. „Tortur“, sagt Hurrelmann. Und ich habe noch Glück. Meine Eltern sind nicht geschieden. Die meines Freundes schon. Statistisch gesehen stehen wir damit ziemlich repräsentativ da. Rund 40 Prozent aller Ehen in Deutschland werden geschieden. Das macht für ein junges Paar im Schnitt etwa einen mit geschiedenen und einen mit ungeschiedenen Eltern. Mindestens also drei Baustellen, wenn die Eltern mal alt sind. Rein geografisch betrachtet.

 

Es gibt eine ganz einfache Lösung für die Frage, wer die Eltern pflegt, wenn man selbst nicht kann: Professionelle Hilfe. Pflegeheim, ambulante Pflege, sowas. Ich google, nur um mal zu gucken: „Pflegeheim Kosten“. 

Pro Monat kostet ein Pflegeheimplatz ohne Pflegestufe in Deutschland durchschnittlich ca. 3.000 Euro. Die Preise variieren allerdings stark und sind abhängig vom Heim, der Zimmerausstattung, dem Standort des Heims und dem Bundesland.

Dass ich meine Eltern mal finanziell unterstützen kann, zeichnet sich nicht ab

Irgendwo weiter unten steht, dass die Pflegeversicherung im „Härtefall“, den man sich ja nicht gerade herbeisehnt, um die 2.000 Euro zusteuert. Dann steht da noch was von Zuschüssen für Bewohner mit Demenz und, dass für Verpflegung und andere Dinge natürlich extra aufgekommen werden muss. Im worst case, wenn es den Eltern also sehr, sehr schlecht geht, muss man als Angehöriger immer noch etwa 1.000 Euro im Monat berappen. Pro Elternteil.

Wer zahlt das? Dass ich meine Eltern mal finanziell unterstützen kann, zeichnet sich nicht ab. Bis vor Kurzem haben sie noch mich unterstützt. Auch Hurrelmann hält das für unwahrscheinlich: „Es sieht im Moment kollektiv nicht so aus. Es gibt auch in Ihrer Generation Gutverdiener, etwa 20 Prozent. Bei der großen Mitte wird’s eng. Sehr viele haben keinen durchgehenden Arbeitsvertrag und verdienen so wenig, da ist es ein Ding der Unmöglichkeit.“ 

Das mit der Rente wird in dieser Form nicht mehr lange gut gehen

Ja, aber gesetzliche Rente, denke ich. Rentenversicherung, oder? Meine Eltern haben beide ihr Leben lang gearbeitet. Meine Mutter seit sie 16 ist, mein Vater ab Anfang Zwanzig. Was die Jahre angeht, die sie in die Rentenkasse einbezahlt haben, müssten sie sich keine Sorgen machen. Und jetzt kommt das große Wort: Generationenvertrag. Der legt fest, dass man nicht das Geld ausbezahlt bekommt, das man selbst einzahlt – sondern immer die gerade arbeitende Generation die Rente derer bezahlt, die eben gerade in Rente sind. Unsere Eltern zahlen für unsere Großeltern und wir für unsere Eltern. Meine Eltern sind Mitte der 60er Jahre geboren, ich Anfang der 90er. 1964 kamen in Deutschland fast 1,36 Millionen Babys zur Welt. ’91 waren es nur noch gut 830.000, 2012 nur noch rund 670.000. Also halb so viele wie Mitte der 60er. Viele Zahlen, die nur eines ausdrücken sollen: Im Jahr 2030, wenn unsere Eltern allmählich in Rente gehen, kommen laut statistischem Bundesamt auf einen Rentner nur noch zwei Beitragszahler. Bisher sind es drei. Und diese zwei Beitragszahler haben eine Chance von 20 Prozent, Gutverdiener zu sein und eine Chance von 80 Prozent, ihr Leben lang in unsteten Arbeitsverhältnissen zu stehen. Das mit der Rente wird in dieser Form nicht mehr lange gut gehen, da sind sich die Experten einig. 

Was denn dann, Herr Hurrelmann? „Da muss Ihre Generation politisch werden“, sagt er. Der ewige Vorwurf an die Millenials. Again. Wir brauchen, sagt Hurrelmann, ganz andere Strukturen als heute. Und da kommt unsere große Stärke ins Spiel: Flexibilität. „Sie müssen in Richtung Wohngemeinschaft denken. Wo ganz viel in die Hände der älteren Menschen selbst gelegt wird. Der eine Pflegebedürftige kann das noch, der andere das.“ Mal ganz abgesehen davon, dass Pflegeberufe in Deutschland für junge Leute wieder attraktiver werden müssen, sind auch digitale Lösungen denkbar. Die Japaner schicken jetzt schon erste Pflegeroboter ins Altenheim.  „Solche Modelle werden wir brauchen. Da muss Ihre Generation viel anstoßen.“ Ich höre die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf und wie sie Angst davor hat, in irgendeiner Pflegeeinrichtung abgestellt zu werden: „Wenn ich’s ins Altenheim gehe, dann nur in Florida.“ Hurrelmann bringt sie zum Schweigen: „Die Babyboomer sind eine Generation der Macher. Wenn die Elterngeneration merkt, es geht nicht anders, dann wird sie das akzeptieren.“

Und schließlich noch einen Schritt weitergedacht, mal ganz im Sinne der Generation Y, nämlich eher egoistisch, wie Hurrelmann sagen würde: Nach unseren Eltern sind wir die nächsten, die alt werden. Das merke ich, wenn ich mit der Zahnbürste die Zwischenräume der Heizungen in der neuen Wohnung schrubbe, weil ich weiß, dass meine Mutter mit „diesem Dreck“ auch nicht leben könnte. Wir als Generation merken es hoffentlich, bevor wir ganz tief in der Altersarmut stecken aus der uns unsere kollektiv ungeborenen Kinder auch nicht raushelfen können.

Fotos: Ina Schoenenburg/OSTKREUZ