Thema – Generationen

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Ach du je, ein Sachse

Immer noch fühlen sich viele Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse – und liegen damit gar nicht so falsch. Über ein Gefühl, das von Generation zu Generation weitergegeben wird

Görlitz

Als Philipp Rubach in der Plattenbausiedlung Weimar-West geboren wurde, war die DDR schon seit sechs Jahren Geschichte – die friedliche Revolution schon sieben Jahre her. Dennoch beschäftigt den 25-Jährigen diese Zeit bis heute – oder das, was sie in den Köpfen der Menschen ausgelöst hat.

Im ländlichen Raum bei Dresden aufgewachsen, gründete Rubach mit Mitstreitern in Leipzig 2018 die Initiative „Aufbruch Ost“. Auslöser war das starke Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl ein Jahr zuvor. Seither fragt sich die Gruppe, wie ein Aufbruch im Osten jenseits von Pegida und AfD aussehen kann. Dazu gehen die Mitglieder der Initiative in Kleinstädte und Dörfer, sprechen mit den Menschen, hören ihnen zu. Das Ziel: ein neues Ost-Selbstbewusstsein zu schaffen. Denn 66 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Zu dem Ergebnis kam 2020 der Deutschland-Monitor der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Aber wie kann es sein, dass sich eine Mehrheit der Ostdeutschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch so fühlt?

Rubach möchte ein neues Ost-Selbstbewusstsein schaffen

Für viele Menschen in Ostdeutschland war die Wende eine einschneidende Erfahrung: der Verlust der gewohnten gesellschaftlichen Ordnung, des Arbeitsplatzes sowie ein neues politisches und wirtschaftliches System. Der Soziologe Bernd Martens spricht sogar von einer „tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Anpassungskrise, die im Grad ihrer Auswirkungen auf die ostdeutsche Bevölkerung nur mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre vergleichbar ist“.

Bis heute beklagen viele Ostdeutsche, für diese gravierenden Erfahrungen und die eigene Lebensleistung keine Wertschätzung erfahren zu haben. „Anerkennung haben sie aus ihrer Sicht nie bekommen: weder für diese Transformationsleistung noch dafür, die Wiedervereinigung durch die friedliche Revolution überhaupt ermöglicht zu haben“, schreiben die Autorinnen und Autoren einer Bertelsmann-Studie zum Thema. Für den Soziologen Daniel Kubiak von der Berliner Humboldt-Universität hängt das Gefühl der Benachteiligung auch damit zusammen, wie über den Osten gesprochen und berichtet wird – nämlich häufig negativ, in Zusammenhang mit Rechtsextremismus oder Arbeitslosigkeit.

Im Schnitt verdient eine Vollzeitkraft im Osten 700 Euro weniger als im Westen

Davon abgesehen sind es aber auch handfeste Fakten, die zum Gefühl der Benachteiligung beitragen. Während das Netto-Durchschnittsvermögen in Westdeutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bei rund 121.000 Euro pro erwachsener Person liegt, beträgt es laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Ostdeutschland nur 55.000 Euro. Im Westen konnten Bürgerinnen und Bürger privates Vermögen in Form von Geld, Aktien oder Immobilien aufbauen, im Osten war dies systembedingt nur stark eingeschränkt möglich. Dazu kamen nach der Wende Arbeitslosigkeit und geringere Löhne als im Westen. Der Gehaltsunterschied ist kleiner geworden – aber immer noch vorhanden: Im Schnitt verdient eine Vollzeitkraft mit Sozialversicherungspflicht im Osten monatlich fast 700 Euro weniger als im Westen.

Unterschiede gibt es auch beim Erben: Menschen in den ostdeutschen Bundesländern erben den DIW-Forschenden zufolge nicht nur seltener als Westdeutsche, sie erben auch deutlich weniger. So wurden von 2002 bis 2017 in Westdeutschland im Schnitt rund 92.000 Euro vererbt, wohingegen es im Osten nur 52.000 Euro waren. Das bedeutet, dass die Vermögensungleichheit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Darüber hinaus ist der Anteil der Ostdeutschen an den Top-Elitepositionen in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft äußerst gering: Je nach Studie sind es etwa zwei bis vier Prozent. Und kein einziges DAX-Unternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland.

Die Benachteiligung spüren auch junge Ostdeutsche, die vor allem aus ländlichen Regionen wegziehen. Viele gehen zum Studieren oder Arbeiten in die ostdeutschen Großstädte oder gleich in den Westen. Die, die zurückbleiben, sind allein mit den Alten. Oft mangelt es zudem an Freizeitmöglichkeiten und an Orten, wo sich junge Menschen treffen können. „Das Gefühl, dass es anderswo schöner und attraktiver ist, jugendlich zu sein, ist im Alltag plastisch spürbar“, sagt Frank Greuel vom Deutschen Jugendinstitut in Halle. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum sich 56 Prozent der befragten 18- bis 34-Jährigen in Ostdeutschland als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse fühlen.

„Ostdeutsche werden sich noch so lange als Bürger zweiter Klasse fühlen, solange es Benachteiligung und Unterrepräsentation gibt“

Zu diesem Ergebnis kam eine Erhebung der Bertelsmann Stiftung, für die Jana Faus die Interviews machte. Die jungen Ostdeutschen erzählten, dass sie sich für ihren Dialekt schämen müssten oder belächelt würden, wenn sie zum Beispiel sagten, dass sie aus Sachsen oder Thüringen kämen. „Sie machen permanent die Erfahrung, dass ihnen eine Rolle zugeschrieben wird – ähnlich wie bei Migranten.“ Die eigenen negativen Erfahrungen reihen sich in die Nachwende-Geschichten der Familie ein: Eltern erzählen ihren Kindern, Großeltern ihren Enkeln von Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, kulturellen Umbrüchen oder nicht anerkannten Bildungsabschlüssen. Viele Kinder und Jugendliche haben auch direkt miterlebt, was die Arbeitslosigkeit nach der Wende mit ihren Eltern machte. Daraus entwickelte sich „ein hoher Grad an Solidarität mit den Biografien der Eltern“, sagt Soziologe Kubiak.

Das sogenannte Familiengedächtnis ist laut dem Historiker Jörg Ganzenmüller von der Friedrich-Schiller-Universität Jena für junge Ostdeutsche die Hauptinformationsquelle für historisches Wissen über die späte DDR und die Wende, erst weit dahinter kämen Schule und Medien als Informationsquellen. So wird eine Erzählung über die Wendezeit weitergegeben, die viele junge Ostdeutsche immer im Hinterkopf haben. „Ostdeutsche werden sich noch so lange als Bürger zweiter Klasse fühlen, solange es Benachteiligung und Unterrepräsentation gibt“, sagt Ganzenmüller.

Dieser Erzählung will die „Aufbruch Ost“-Initiative etwas entgegensetzen. Dafür führen Philipp Rubach, der bei der Bundestagswahl für die Linke kandidierte, und sein Team viele Gespräche und erzählen auf Podien die Geschichten der Menschen. Zudem unterstützen sie Gewerkschaftsproteste. So fuhren sie nach Wilkau-Haßlau, um dort mit den Mitarbeitenden gegen die Schließung des Haribo-Werks zu protestieren. Oder nach Riesa, um die Streikenden der dortigen Teigwarenfabrik zu unterstützen, die eine Angleichung der Ostlöhne an das Westniveau forderten. „Ich glaube nicht, dass der Westen uns retten wird“, sagt Rubach. „Entweder wir machen es selbst, oder niemand tut es.“

Titelbild: Thomas Victor

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.