„Es gibt nur einen Grund, warum es die EU überhaupt gibt. Weißt du, welchen?“ Derek Clark hebt sein Glas, randvoll mit schaumlosem Bier, und fixiert mich. „Äh … hat es irgendwas mit dem Krieg zu tun?“, rate ich, schon etwas benebelt. Ich hab zwei Pints London Pride Ale intus und arbeite gerade an meinem ersten Pint Old Speckled Hen. „Wegen Napoleon.“ „Ach.“ „Und Stalin und Hitler. Wegen der imperialistischen Mächte Europas.“ Nach zwei Stunden im Pub „The Wig & Pen“ in Northampton, in der Grafschaft Northamptonshire, bin ich schon überzeugt von allem, was mir Derek Clark sagt. Die Sache ist nämlich die: Die EU entstand direkt aus der europäischen imperialistischen Geschichte, sie wurde aufgebaut aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, um die Europäer neu, aber auf eine andere Art zu beherrschen: mit einer Diktatur der Bürokratie.

Derek ist Abgeordneter im Europäischen Parlament für die United Kingdom Independence Party, Großbritanniens Anti-EU-Partei. Außerdem ist er ein 79-jähriger ehemaliger Lehrer für Naturwissenschaften sowie ein ehemaliger Rugbyspieler, und er kann mehr Old Speckled Hen trinken als ich. „Entschuldigung. Ich muss mal zur Toilette“, sage ich, als er gerade eine Redepause macht. Derek sagt: „Ich hole noch eine Runde London Pride.“ Ich nicke resigniert und suche meine englischen Pfund raus, deren £-Zeichen auch das UKIP-Logo ist. „Lass stecken!“, ruft Derek und lacht. „Du sahnst jetzt von mir ab, von meinen EU-Bezügen!“

Derek hat Grund zu Feiern. Die UKIP hat bei den Kommunalwahlen Anfang Mai Geschichte geschrieben. Keine andere „vierte“ Partei (neben den Conservatives, der Labour Party und den Liberal Democrats) hat jemals so viele Wähler erobert auf der Insel: Fast jeder Vierte (23 Prozent) hat die UKIP gewählt. Sie stellt nun 147 Ratsmitglieder, sogenannte „Councillors“, in den britischen Kommunen. Die Londoner Elite, wie die UKIP-Funktionäre gern die übrigen Parteien, die BBC und die meisten britischen Zeitungen nennen, versucht krampfhaft , eine Strategie zu finden, die diese neue politische Macht zügeln kann. Vor allem der Conservative Party von Ministerpräsident David Cameron ist das Lachen über die einst als Haufen von Spinnern betrachtete UKIP vergangen. Vorsichtshalber hat man angekündigt, nach der nächsten Wahl eine Volksbefragung zum Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten.

„Wir haben die Juden nicht umgebracht“

Im „Wig & Pen“ erzählt Derek jetzt lustige Geschichten aus dem Europäischen Parlament in Straßburg, wo er zusammen mit den zehn anderen UKIP-Abgeordneten einmal im Monat hinfahren muss. Für Derek ist das jedes Mal eine Reise zum Hort der Freiheitsberaubung. Voller „Froggies“ (Franzosen) und „Krauts“ (Deutsche), die anderen das Rauchen im Pub verbieten wollen, die Treibjagd auf Füchse verteufeln oder Fangquoten für Fischer vorschreiben. Ich behaupte, dass es doch trotz Eurokrise vieles gibt, was die EU gut macht. Zum Beispiel die Menschenrechtskonvention. Da kann man doch eigentlich keine Einwände haben.

„Okay, ich wollte es nicht sagen, aber du hast mich dazu gezwungen“, sagt Derek entnervt. „Wir haben nicht die Juden verfolgt und umgebracht. In England ist das nie passiert. Ihr braucht die Konvention vielleicht, aber das müsst ihr entscheiden. Wir hatten keine Konzentrationslager, deswegen brauchen wir auch keine Verfassung, die Magna Charta reicht uns.“ Als Brite weiß ich natürlich, wovon Derek spricht: 1215 vereinbarte der englische König mit dem revoltierenden englischen Adel Freiheitsrechte.

Und ich weiß auch, dass ich keine Lust mehr habe, mit Derek Clark über die EU zu reden. Ich werde es lieber mal mit Fußball versuchen. Gleich, wenn er mit der nächsten Runde London Pride zurückkommt.