„Es ist dieser Ort. Man muss so früh wie möglich einen Ausgang finden. Irgendwie durch die Magenschleimhaut diffundieren. Sonst geht man in der Säure unter.“ Die Familie als Trakt, in dem man verdaut und wieder ausgeschieden wird: Der Comiczeichner Lukas Jüliger fasst die Alltagszwänge seiner Figuren in organische Vergleiche und schafft beklemmende Bilder von Ängsten und Zweifeln im familiären Abgrenzungsprozess. Zimmer mutieren zu verschlossenen Organen ohne Öffnung, grüner Saft treibt als Magensäure durchs elterliche Wohnzimmer.

Nur auf den ersten Blick ist Jüligers Debütalbum „Vakuum“ (Reprodukt, 2013) eine von so vielen Coming-of-Age-Geschichten, die von den Schwierigkeiten des Heranwachsens erzählen. Lukas Jüliger richtet den Fokus jedoch ganz gezielt auf Körper und Wahrnehmung seiner Figuren, zoomt aus den unterschiedlichsten Perspektiven in ihre Gedankenräume. Er illustriert psychische Entwicklungen anhand körperlicher Extremzustände: reglose Körper nach Einnahme der falschen Droge. Ein obduzierter Körper in einer Leichenhalle. Oder ein völlig verfetteter Körper nach einer Woche Fast Food. Wo genau die Realität endet und das Gedankenexperiment anfängt, ist dabei oft schwer auszumachen.

Die Literatur steckt voller kurioser Geschichten über menschliche Körper und ihre Zustände. Schon in Lewis Carrolls Erzählungen über Alice im Wunderland schrumpft und wächst die Hauptfigur, bleibt von der Cheshire Cat nur ein grinsender Mund zurück und hüpft der sprachgewitzte Humpty Dumpty als sprechendes Ei auf zwei Beinen durch die Erzählung. In jüngster Zeit bieten auf diesem Feld vor allem Comics einen erstaunlich großen Reflexionsraum für neue Sichtweisen und Identifikationsmöglichkeiten.

In „Vakuum“ passiert zunächst wenig. Ein Junge trifft ein Mädchen. Sommer und Annäherung. Später kippt die Stimmung. Der Junge verliert seinen besten Freund, weil dieser die falschen Drogen nimmt. Ein anderer Junge vergewaltigt ein Mädchen und bringt sich dann um. Sein Bruder läuft Amok in der Schule.

Und das Ganze in einem Alltag, der sich anfühlt wie ein Vakuum. Physikalische Definition: die Abwesenheit von Materie. Ein luftleerer Raum, in dem man dann den eigenen Körper vielleicht noch stärker spürt. Oder auch zunehmend weniger. Der Körper wird in „Vakuum“ zum Instrumentarium, um psychische Prozesse und Gedankenwelten zu illustrieren. Innenwelt und Außenwahrnehmung werden verzahnt, Geschlechter- oder Rollenfragen spielen kaum eine Rolle: Die persönliche Identitätsfindung steht im Mittelpunkt. Und das funktioniert sehr gut.

Auch in „Persepolis“ (Edition Moderne, 2004) von Marjane Satrapi, das ja nachgerade ein Klassiker der noch recht jungen Kategorie „Graphic Novel“ ist. In mehreren Bänden schildert die Comiczeichnerin ihre Kindheit im Iran und ihre Emigration nach Europa. Der Plot ist an Coming-of-Age-Geschichten angelehnt, thematisiert vor allem aber die gesellschaftspolitischen Veränderungen nach der Islamischen Revolution 1979. Marjane Satrapi arbeitet in Schwarz-Weiß, ihre schematisch gezeichneten Figuren sind identisch angelegt. Vermummte Frauen in Schwarz. Männer mit Vollbärten im Kaftan. Homogene Gesichtsausdrücke. Der Körper ist austauschbar, der Einzelne zählt nichts. Die staatliche Gleichschaltung zeigt sich primär äußerlich. Unterscheidet sich ein Individuum von der großen Masse, wird es sofort sichtbar. Eine Stigmatisierung.

Wie trage ich meinen Schleier? „Die moderne Frau signalisierte ihre Opposition mit ein paar sichtbaren Strähnen.“ Haarsträhnen also, ein winziges Merkmal, das ideologisch aufgeladen wird. Durch ein paar Zentimeter mehr oder weniger Kopftuch werden gefährliche Ausgrenzung oder sichere Zugehörigkeit symbolisiert, aber auch Protest. Und auch ihre Emigration im Jahr 1984 nach Wien wird bei Marjane Satrapi sofort körperlich sichtbar: Sie schneidet sich die Haare, durchläuft unterschiedliche äußere Phasen, wird Punk. Innerlich oszilliert sie zwischen Ost und West, ist zu aufgeklärt für den Iran, zu traditionell für Österreich. Anhand ihres Aussehens lässt sich der innere Zwiespalt wunderbar ablesen.

Auch einen prominenten literarischen Vertreter in Sachen Körperwahrnehmung gibt es seit einigen Jahren in Comicform: die Geschichte Gregor Samsas, 1912 von Franz Kafka in „Die Verwandlung“ beschrieben. Bereits drei Comicversionen existieren von der Erzählung, die jüngste stammt vom Szenaristen Eric Corbeyran und dem Zeichner Richard Horne (Knesebeck Verlag, 2010).

Eines Morgens wacht Gregor Samsa in seinem Bett als „Ungeziefer“ auf. Der Auftakt für ein horribles Szenario, minutiös schildert Kafka die Hilflosigkeit in Form eines auf dem Rücken liegenden Riesenkäfers, die Proportionen des Zimmers ins Lächerliche ziehend. Körperliche Innen- und Außengrenzen verschwimmen, werden außer Kraft gesetzt. Die Physis wird zum Abbild irrealer Möglichkeiten, aber auch realer Zwänge. Im Fall von Gregor Samsa ist es vor allem die Familie, die ihn unter Druck setzt. Und das umso mehr, als er alleiniger Ernährer ist und durch seine Verwandlung das familiäre System nun einzustürzen droht.

Eric Corbeyrans und Richard Hornes Adaption der Erzählung setzt dann auch das Absurde der körperlichen Verwandlung mit düsterer Farbgebung und unkonventionellen Perspektiven eindrücklich in Szene. Im Gegensatz zu anderen Comicversionen legt Richard Horne Gregor Samsas Gestalt eindeutig fest und macht ihn zur Küchenschabe.

In den einzelnen Panels prallen detailgenaue Körpersprache der Schabe und Originalzitate aus Kafkas Text aufeinander: Die Ausweglosigkeit von Samsas Situation verstärkt sich. Und je nach Bildperspektive verändern sich Größe und Wirkung der Schabe – Samsas gepanzerter Körper signalisiert mal Angst, mal verbreitet er Schrecken in seiner Umwelt. Seine Familie tritt ihm unter anderem, wie in der Originalvorlage, mit Besen oder Stock gegenüber, versucht, ihn wie ein Ungeziefer aus seinem Zimmer zu kehren: Im Comic findet also eine genaue Interpretation von Kafkas Erzählung statt, die sich gut erschließt. Das gilt auch für das Tasten der Schabe mit ihren langen Fühlern. Gregor Samsas Ausdeuten der eigenen Handlungsspielräume, die ihm nicht nur körperlich, sondern auch gedanklich zur Verfügung stehen, vermittelt sich ganz konkret.

Ganz anders in Sachen Körperwahrnehmung verfährt die Berliner Künstlerin Moki in ihren Zeichnungen und Bildergeschichten, wie etwa in „Wandering Ghost“ (Reprodukt, 2011). Sie schickt ihre Figuren in surreale Landschaften, skizziert den Prozess einer inneren Veränderung auch durch körperliche, äußere Metamorphosen. Sie schafft aber ihre eigenen Wesen, die mit Menschen kaum Ähnlichkeit haben. Wie etwa ein kleines Äffchen mit Segelohren: angelegt als putzige Gestalt, die mit großen Augen in die Welt blickt und durch Zeit und Raum streift.

Aus dem kleinen Wesen wird über Nacht ein fuchsähnliches Tier. Unbekümmertheit und Neugier sind verloren, kindliches Ich und die neue, äußere Erscheinung prallen aufeinander: wieder ein Erwachsenwerden jenseits von Geschlechterklischees und Rollenzuschreibungen. Wörter braucht Moki dafür nicht, sie arbeitet ausschließlich mit Bildwelten. Flucht und Angst vor dem eigenen Ich treiben ihre Figur durch eine asiatisch anmutende Landschaft, eine körperliche Selbstbegegnung in Zeitlupe. Auch für den Leser.

Simone Scharbert arbeitet als freie Redakteurin in Köln. In den letzten Wochen hat sie beim Lesen und Schreiben genau auf ihre eigene Körperwahrnehmung geachtet und ist jetzt schon gespannt, wie sich ihr Körper bei der Lektüre von Marc-Antoines Mathieus neuer Graphic Novel „Richtung“ verhalten wird.