Der Soziologe und Fußballfan Klaus Theweleit über Körperkult, Schönheitswahn und Aggressionen im Stadion.

Herr Theweleit, was gibt Ihnen der Sport?

Klaus Theweleit: Ich spiele einmal die Woche Volleyball. Und freue mich, dass der Körper noch funktioniert, besonders, wenn es ein ausgeglichenes Spiel ist. Ich freue mich, dass der Ball läuft. Ich bin mit dem Ball aufgewachsen, mit dem Ball am Fuß. Dass der Ball gut läuft, ist irgendwie Teil des Wohlbefindens.

Was ist, wenn der Ball einmal nicht läuft?

Ich leide, wenn Leute bei der Ballannahme ihre Arme anwinkeln und den Ball dann ins Gesicht bekommen – statt die Arme auszustrecken, obwohl man es ihnen achtmal gesagt hat. Es kann einem auch den Abend verderben, wenn einer andauernd meckert oder behauptet, der Ball sei im Feld gewesen, obwohl ihn sonst alle draußen sahen. Das belastet. Auch wenn man sagen könnte: Ist doch egal. Aber es bleibt was hängen.

Warum ist das so?

Sport ersetzt ein bisschen das Feld der fehlenden gesellschaftlichen Gerechtigkeit. Reichtum, Schönheit, intellektuelle Fähigkeiten – all das ist ungerecht verteilt. In den meisten Fällen kann man daran nicht viel ändern. Der Sport dagegen hat eine demokratische Seite: Die Regeln gelten für alle. Wer das nicht akzeptiert, verstößt gegen eine der wichtigsten Regeln des Zusammenlebens: Was für den anderen gilt, das gilt auch für einen selbst. Wann immer jemand Sonderrechte einklagt oder sich Hintertüren offen- hält, ist das unangenehm und erinnert an den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf, in dem dauernd mit unfairen Mitteln oder ungleichen Voraussetzungen gearbeitet wird. Das will man beim Sport nicht. Offensichtlichen Betrug mag eigentlich niemand. Bei aller Härte soll doch zumindest eine Illusion von Gleichheit bestehen.

Die Teilnahme an dieser Sport-Demokratie scheint man sich allerdings dennoch erst hart verdienen zu müssen. Jedenfalls hört man immer öfter: Ich muss heut noch laufen gehen, ich muss heut noch zum Fitnesstraining. Woher kommt dieses Muss?

Ja, es gibt Menschen, die laufen ständig, spielen Tennis, gehen in ein Fitnessstudio. Aber das ist eine Minderheit im Vergleich zu den Bewegungsunlustigen, die lieber eine rauchen oder in die Sonne gucken. In den USA kann man keinen Schritt in einem Wald machen, der nur halbwegs in Stadtnähe ist, ohne dass einem ständig Läufer begegnen. Die Dünnen, auch die nicht so Dünnen – alle schleppen sich über die Joggingpfade. Das habe ich schon ein bisschen als einen Wahn erlebt, als Zwang. Wer sich da morgens nicht in seinen Trainingsklamotten zeigt, der signalisiert, dass er aus dem gesellschaftlichen Konkurrenzkampf aussteigt.

Gibt es überhaupt so etwas wie ein gesundes Verhältnis zu unserem Körper?

Gesund – ich weiß nicht, was das ist. Der eine kann viel arbeiten, raucht und trinkt, macht wenig Sport, und es geht. Andere machen es umgekehrt, und es geht auch. Aber auch die sehr Vorsichtigen können erkranken. Viele Jugendliche glauben, dass ein Normverhalten, also wenn sie so oder so sind, so oder so handeln, dazu führt, dass sie akzeptiert werden. Das stimmt so aber nicht. Anders als beim Schach oder beim Fußball gibt es für dieses vermeintliche Normverhalten eben gerade keine allgemeinen Regeln – man braucht Glück. Und die Individuen sind sehr unterschiedlich.

Wenn das so ist, warum empfinden wir meistens doch nur schlanke Menschen als schön?

Schlank, dünn, durchtrainiert scheint doch als allgemeine Norm verstanden zu werden.
Es ist schon der Trend, auf den allgemeinen körperlichen Zustand zu achten. Schlank, dünn, fit sein – das ist der erwünschte Zustand. Dabei entspricht die Mehrheit keineswegs dieser Vorstellung. Dicke gab es auch zu meiner Schulzeit schon eine ganze Menge. Es wurde allerdings nicht dieser Druck aufgebaut, dass sie selbst schuld daran sind, wenn sie dick sind. Das unterliegt heute einem stärkeren Normdruck, daran hat der Sport sicher mitgewirkt. Aber wichtiger noch ist eine Form der gesellschaftlichen Entsolidarisierung. Heute ist es offenbar erlaubt oder gar ge-wünscht, dass man sagt: „Ich bin besser als du, Dicksack. Ich bin doppelt so gut, sogar viermal so gut, also kann ich dich auch behandeln wie ein Stück Scheiße.“ Da sehe ich eine ziemlich krasse Mitleidlosigkeit gegenüber Menschen, mit denen man sich nicht besonders verbunden fühlt.

Ist es eine Generationenfrage, sich so über den Körper zu definieren?

In meiner Generation sicher. Die Generation meiner Eltern, geboren so um 1900, wirkte mit sechzig so alt wie heute nicht mal ein Achtzigjähriger. Wenn ich mir vorstelle, mein Vater hätte mit sechzig gegen einen Ball treten sollen, der hätte sich ein Bein gebrochen. Die Nachkriegsgeneration hat das gesehen und gelernt: Das muss nicht so sein. Wenn man sich bewegt, jugendlicher denkt, was gegen den Bierbauch tut, ein bisschen weniger isst, dann reagiert der Körper darauf. Es gibt weniger Falten, auch Ältere haben Sex; die Liebe verlöscht nicht ab fünfzig. Dies alles hat eine größere Attraktion als der berufliche Weg, der bei den Alten früher alles dominierte.

Sport ist da also auch Mittel zum Zweck. Gilt das Gleiche auch für den passiven Sportler? Die Fußball-WM 2006 in Deutschland hat viele Menschen begeistert, die zum Teil gar nicht wussten, welche Spieler auf dem Platz stehen.

Sport wird benutzt, das nennt man heute Eventkultur. Nicht nur Jugendliche, aber die besonders, haben den Drang dahin zu gehen, wo etwas los ist. Wenn man weiß, dass da zigtausend Leute hingehen, ist das gemeinsame Fußballschauen für viele auch eine Art gesellschaftlicher Anschluss. Der Anlass ist dabei egal. Meiner Meinung nach war auch die Wahl des Papstes vor ein paar Jahren nicht der Grund dafür, dass 300000 Jugendliche auf den Petersplatz in Rom strömten. Die katholischen Eltern haben halt gesagt: Da darfst du hin. Und am nächsten Tag musste man die ganzen Kondome wegräumen. Genauso ist es beim Public Vie-wing auch. Ein Teil schaut, und ein Teil benutzt es in jeder Weise als Event. Lernt Leute kennen. Vielleicht geht was, vielleicht trifft man die Frau oder den Mann seines Lebens.

Was ist dann der Unterschied zwischen einem Papstbesuch und einem Sportevent?

Sport kann am stärksten entideologisiert werden. Auch jemand, der in der Bundesliga immer gegen den FC Bayern ist, drückt dem FC Bayern in einem Champions-League-Finale gegen Manchester die Daumen. Während jemand, der Pink Floyd nicht mag, Pink Floyd unter keinen Umständen mag. Dahinter steckt in der Regel eine Ideologie: Die-se Musik passt mir einfach nicht. Das kann beim Sport anders sein, flexibler.

Man könnte aber sagen: Die Ideologie des Sports ist es, gewinnen zu wollen. Funktioniert Sport ohne diesen Wunsch?

Nein, so funktioniert das nicht.

Warum nicht?

Das Einfachste ist, von einer ganz primitiven Auseinandersetzung auszugehen: einem körperlichen Ringkampf. Man möchte nicht unten liegen und ein paar abbekommen von jemandem, der über einem ist. Dagegen gibt es einen natürlichen Widerstands-impuls. Und man lässt den anderen in Ruhe, wenn man ihn besiegt hat, man vernichtet ihn nicht – als ein friedlicher Mensch zumindest. Man muss also im Sport nicht Krieg spielen. Aber zugrunde liegt dem eine Auseinandersetzung, die einmal kriegerisch war. Deswegen möchte man lieber 3:2 gewinnen als 2:3 verlieren. Ein Stück von diesem Gefühl „Ich werde nicht vernichtet“ wird da belebt.

Aber das Gleiche gilt natürlich auch bei Kartenspielen, beim Würfeln und bei Gesellschafts-spielen.

Stimmt. Verlieren hat allgemein, wenn auch ganz weit im Hintergrund, etwas von der Todes-drohung, die im Körper steckt. Sportlicher Sieg ist eine Möglichkeit, diese Drohung zu mildern.

Heute gibt es Sport-Eliteschulen, in denen schon Kinder lernen sollen, möglichst gar nicht mehr zu verlieren.

Das sehe ich nicht so. Eher ist das Verlieren da Teil einer Berufsausbildung. Der Fußball, den heutige A-Junioren spielen, ist eine Art Wissenschaft. Auf dem Feld gelernt wie an der Tafel. Der Körper der jungen Spieler, die heute Profis werden, ist ein wissenschaftlich überprüftes Kapital der Vereine. Falls es nicht läuft, können die Betroffenen eine andere Berufsausbildung machen; denn sie werden, zum Beispiel in den Fußballinternaten, schulisch nicht hängen gelassen.

Im Sport richtig Geld verdienen können aber auch heute noch vor allem Männer. Wird es auf absehbare Zeit Sport-arten geben, die nur Männer betreiben?

Nein. Das gibt es doch heute schon nicht mehr. Und wenn, dann wird man bald einsehen, dass es völlig absurd ist, Frauen von einer Sportart auszuschließen. So absurd wie bis 1970 der Versuch des Deutschen FußballBundes, den Frauenfußball zu verbieten.

Warum spielen denn Jungs als Kinder gern Ball, Mädchen aber nicht?

Früher war das zumindest so. Jungs haben aber sowieso gern um sich getreten. Ein Tritt in den Hintern oder nach dem Ball – so weit ist das nicht voneinander entfernt. Die Mädchen machten das einfach nicht. Heute ist das dann möglich. Ich wohne in einer Straße mit Schule. Mädchen, die sich auf dem Schulweg heftig prügeln, kommen durchaus vor.

Was können wir aus dem Sport für das Leben lernen?

Man soll lernen können, dass man sich in den Grenzen einer gewissen Schlitzohrigkeit fair verhält; so die Idee. Das, was auch Schüler in der Schule lernen: Den Sportlehrer, der den erfolgreichen Torschützen für den verdeckten Ellenbogencheck lobt, den gibt es nicht.

Kann der Sport politische oder soziale Probleme lösen?

Lösen nicht, aber bearbeiten. In der Schule, in der mehrere Ethnien miteinander auskommen müssen, ist Fußball oft das Einzige, was funktioniert. Wer gut spielt, ist hoch angesehen – einfach weil er gut spielt. Es hat zwar etwas Absurdes, wenn in der Fußballmannschaft des SC Freiburg zwei, drei Spieler aus Mali kommen, aus Tunesien, aus dem Libanon und kein einziger Badener dabei ist – und die Zuschauer vor dem Spiel aufstehen und das Badnerlied singen. Aber die machen das unbeirrt und nehmen die Elf an, die „unser“ Trikot trägt. Das Trikot macht die Mannschaft.

Solange sie das richtige Trikot tragen, werden Ausländer bejubelt – sonst ziehen wir ihnen eine über? 

Ja, es gibt Gegenden, in denen das vorkommt. Wenn in Cottbus, in einer nicht gerade polenfreundlichen Umgebung, zehn Polen der Mannschaft den Klassenerhalt sichern, feiert sie das Stadion. Dieselben zehn können, wenn sie nachts um eins in Zivil an einer Straßenecke vor der Kneipe stehen, von denselben Leuten mit Knüppeln traktiert werden, weil „die Polen uns die Arbeitsplätze klauen“.

Was passiert mit den Menschen, die solche Ressentiments haben, wenn sie in ein Stadion gehen? 

Das ist das normale Sozialverhalten von, psychoanalytisch gesprochen, „ich-schwachen“ Leuten. Ich-schwach heißt: leicht von außen steuerbar. Jedenfalls eine Störung, die mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun hat. Sie verhalten sich nach Gruppendruck. Der Gruppendruck im Stadion ist ein anderer als der mit der Saufgruppe draußen. Wenn draußen der Druck herrscht: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg, da ist einer, den verprügeln wir jetzt“, kann im Stadion der Druck herrschen: „Die tragen unser Trikot, die feuern wir jetzt an“. Entscheidend ist, dass so etwas in der Psyche vieler Personen voneinander abgespalten und so abgespeichert wird. Das kann sich än-dern, wenn der Druck aus dem Stadion irgendwann überwiegt und der Einzelne dem anderen Druck, dem Prügelwunsch aus Ressentiment, nicht mehr nachgibt. Daher sind Anti-Rassismus-Aktionen und -Initiativen, wie sie der DFB seit einiger Zeit betreibt, wichtig. Menschen haben nur eine Chance, sich zu ändern, wenn sie etwas anderes erleben.

Die Begeisterung für den Sport schweißt zusammen. Fehlt Menschen, die sich nicht für Sport begeistern, etwas?

Ich nehme an, die, die das nicht über Sport ausleben, haben was anderes Entsprechendes, bei dem sie mitfiebern können. Denen, die da gar nichts haben – mag sein, denen fehlt vielleicht etwas.

Klaus Theweleit, 66, lehrt am Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Seine thematisch sehr umfangreiche Bib-liografie beinhaltet Bücher wie »Männerphantasien 1+2« (Piper) von 1977 und das teilweise autobiografische Buch »Tor zur Welt –Fußball als Realitätsmodell« (Kiepenheuer & Witsch).