Wenn es in der DDR einen Ort gab, an dem es unmöglich war, musikalisch den Aufstandzu proben, dann war das der Palast der Republik. Das zweitbekannteste Bauwerk der DDR nach der Mauer diente als Parlamentsgebäude und Kulturhaus. Es gab einen Konzertsaal, ein Theater, eine Milchbar, ein Eiscafé, eine Galerie und sogar eine Bowlingbahn. Alles, was der DDR Durchschnittswerktätige allzu oft in seinem betongrauen Alltag missen musste, sollte er hier bekommen. Hinter den Kulissen allerdings war der sozialistische Idealort ein Hochsicherheitstrakt: komplett verkabelt, voller Kameras und sichtbarer wie unsichtbarer Wachmänner. Sogar zwei Stasi- Abhörräume gab es. Diese Festung der Staatskultur war der allerletzte Ort, wo etwas unbemerkt passieren konnte, geschweige denn ein illegales Punk-konzert. Vorhang auf für »Ornament und Verbrechen«.

»Piraten-Gigs fanden wir immer schon super«, erzählt Ronald Lippok, und der Palast der Republik war nun mal die ultimative Herausforderung. 1986 ergab sich eine Möglichkeit. »An dem Abend spielte die englische Rockband Ten Years After. So eine FDJ-Veranstaltung mit paar Tausend Zuschauern «, erinnert sich Ronalds Bruder Robert; beide begleiteten an jenem denkwürdigen Tag ein Theaterstück musikalisch. »Wir dachten, wir wären ja blöd, wenn wir nichts machen würden, wo wir schon mal drin sind. Es fehlten ja nur noch dierestlichen vier Bandmitglieder. Und die Verstärker. Und natürlich die Instrumente.« Eine Menge Zeug. Doch die Sicherheitskräfte waren überfordert, die Band konnte durch den Hintereingang rein, ihre  Anlage im Foyer aufbauen und mit »Stranger than Kindness« von Nick Cave loslärmen. Es folgte eine knappe dreiviertel Stunde schräger Instrumentalversionen  von »T-Rex«, den »Beach Boys« und den »Residents«. Höflicher Applaus des Theaterpublikums, keine Zugabe, schnell weg. »Wir waren im Auge des Orkans«, sagt Robert Lippok. »Das war einfach nicht denkbar, dass da was Illegales aufgezogen wird.« Anarchy in the GDR!

Auf dem Revier wurde der Irokesenschnitt abrasiert

In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre tanzte eine ganze Generation von Bands dem zerfallenden Staat auf der Nase rum. Kurz zuvor war das noch brandgefährlich: 1983 forderte Stasi-Chef Mielke »Härte gegen Punk«. In einem MfS-Rapport war von »Zügen der Entartung und der Asozialität« die Rede. Sieben Punkbands landeten vor Gericht. Musiker von »Namenlos« kamen ins Gefängnis, andere Bandmitglieder, etwa von »Planlos«, wurden in die NVA eingezogen, wieder andere wurden in die Nervenheilanstalt ein- oder in den Westen ausgewiesen. »Damals kam oft die Polizei und hat Gigsabgebrochen«, erinnert sich Ronald Lippok, der damals in der Band »Rosa Extra« spielte. »Mir hat man mal auf der Straße Steine hinterhergeschmissen«, erinnert sich sein Bruder. Anlass dafür war seine Frisur: kurz, mit Stoppeln und einer langen Strähne. Manche Punks wurden von der Volkspolizei verhaftet, um ihnen auf dem Revier den Irokesenschnittabzurasieren. Im Ministerium für Staatssicherheit gab es einen Erkennungsschlüssel, derzwischen Punks, Skinheads, Heavys, New Romantics und Poppern als dominante Jugendgruppen der DDR unterschied. Sogar eine Breakdanceszene blühte im Sozialismus. Was sie alle gemein hatten: Das MfS hielt sie für gefährlich.

Auch wenn die »Härte gegen Punk«-Episode den Höhepunkt staatlicher Repression gegen Jugendliche darstellte, war das Misstrauen der DDRFührung chronisch gegenüber allen, die anders sein wollten. Insbesondere, wenn man die bürgerliche Dekadenz des Westens dahinter witterte. Schon Rock 'n' Roll roch nach Ärger. Walter Ulbricht sah im hüftenschwingenden Elvis ein gefährliches Geschütz im Kalten Krieg. Die Beatles galten im Kulturministerium   als Motor der imperialistischen Propagandamaschinerie, die langhaarigen Hippies als maskierte Klassenfeinde. Wann immer neue Jugendbewegungen entstanden, versuchte man sie mit aller Macht zu unterdrücken. Scheiterte dies, was in der Regel der Fall war, probierte man sie zu vereinnahmen und erfand eigene Musikrichtungen, die sich an die Westimporte anlehnten: Da man Rock nicht verbieten konnte, wurde Anfang der 70er-Jahre mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker das »Komitee für Unterhaltungskunst« eingerichtet, eine Koordinierungsstelle zwischen Kulturministerium und Bands. Ein enormer Behördenapparat kümmerte sich fortan um die planwirtschaftliche Produktion von Musik, die nach ideologischen Maßstäben organisiert wurde. Mit Bands wie den »Puhdys« sollte ein genuiner Ost-Rock geschaffen werden, um die Wünsche der Jugend zu befriedigen. Die Tauwetterperiode währte indes nicht lang. 1975 wurde die Gruppe Renft verboten, 1976 der kritische Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert. Von der Strategie der Umarmung ließ man dennoch nicht ganz ab. In einem Positionspapier hieß es noch 1984: »Rockmusik ist geeignet, die Schönheiten des Lebens in Frieden und Sozialismus zu propagieren, den Lebensmut zu stärken, Stolz auf Erreichtes zu zeugen, staatsbürgerliche Haltung und Aktivität zu fördern und auch Widersprüche transparent zu machen und mit ihren Mitteln Partei zu nehmen in den Kämpfen unserer Zeit.« Selbst als Anfang der 80er-Jahre die neue deutsche Welle mit Spaßkanonen vom Schlage eines Markus (»Ich will Spaß«) vom Westen in die DDR schwappte, wurden flugs eigene Bands gegründet.

Die zweite Punkgeneration war für den Staat nicht mehr zu entschlüsseln

Den Punkbands war diese Vereinnahmung reichlich egal. Sie wollten von der DDR nichts wissen und bemühten sich weder um eine offizielle Spielerlaubnis, genannt »Pappe«, noch um Plattenaufnahmen bei dem staatseigenen Label Amiga. Sangen Bands der ersten Punkgeneration wie »Planlos« oder »Schleimkeim« noch über politische Missstände, etwa über Stasi-Bespitzelung und Zensur, distanzierte sich die zweite Generation von allzu Politischem und baute auf die Macht des Rätselhaften, Unentschlüsselbaren, was für die kontrollwütigen Behörden fast der größere Affront war. »Eigene Netzwerke aufzubauen war unsere Reaktion auf den Staat«, sagt Robert Lippok. Seine Band »Ornament & Verbrechen« war nie eine ganz normale Band, eher etwas Flüchtiges, ein Gerücht aus verfallenen Kellern und Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs, wo die Künstler und Querdenker wohnten. Die Besetzungen schwankten, der Sound auch. Er konnte von Samba bis Industrial gehen. »Der Stil war uns egal«, sagt Ronald Lippok. »Das hatte damit zu tun, wer gerade mitgemacht hat.«

Wichtig war den Musikern vor allem die Intensität. 1988 fand das erste Acid-House-Konzert in der DDR statt – in der Kunsthochschule Berlin- Weißensee. Ein Commodore 64 sorgte für die Sounds. Statt ihre kommunistische Persönlichkeit in Jugendklubs oder staatlichen Kulturhäusern zu entwickeln, spielten die Bands in Galerien und Wohnungen, Kirchen und Ateliers, experimentierten mit Radios und selbst gebauten Instrumenten und nahmen in nächtlichen Jamsessions Kassetten auf, die in 30er-Auflagen im Sympathisantenkreis die Runde machten. Unterhalb des Radars der staatlichen Kontrolle entstand so eine Kommunikationsguerilla, die immer neue Nischen für Auftritte und Aktionen fand. Die Punkforderung »Do it yourself« wurde wohl nirgends konsequenter umgesetzt als in ostdeutschen Hinterhöfen – und die Umsetzung hat womöglich nirgendwo mehr Spaß gemacht. Bands wie »Feeling B«, aus denen später »Rammstein « hervorging, »AG. Geige« oder »Herbst in Peking« waren das Gegenteil des ausgeprägten Ordnungswunsches der DDR-Obrigkeit. Und die reagierte mit Zuckerbrot und Peitsche: In manche Bands schleuste die Stasi sogar IMs ein, etwa in »Die Firma« oder »Wutanfall«. Wieder andere Bands erhielten Genehmigungen für Auftritte, Plattenaufnahmen und sogar Auslandsreisen. So spielte »Feeling B« ausgerechnet am 9. November 1989 in Westberlin.

In den späten 80er-Jahren regierte auch in der Kulturpolitik das Chaos. »In der DDR musste man eigentlich immer für etwas sein«, erinnert sich Monika Bloss, die bis 1985 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Komitee für Unterhaltungskunst arbeitete. »In den 80er-Jahren organisierte das Komitee mit der FDJ ein Festival. Im Westen hießen solche Veranstaltungen immer Rock against Racism oder so. In der DDR konnte man sich dann auf Rock für den Frieden einigen.« Das jährliche Festival war der letzte große Versuch, die Jugendlichen mit staatlichen Kulturprodukten zu erreichen. »Offizielle « Bands wie »Silly« und »Karat« wurden angehalten, Songs dafür zu schreiben. Doch selbst in der Mangelwirtschaft ließen sich diese Platten bald nicht mehr verkaufen. Die jungen Leute hatten sich längst ihre eigenen Nischen geschaffen, und die ministeriellen Instanzen waren ziemlich verwundert, dass sich da junge Leute mit Stolz und Arroganz den offiziellen Kanälen verweigerten.

Oder sie unterwanderten – wie Ronald Galenza. »Der Alltag in der DDR war unfassbar langweilig. Wir waren erfüllt von Musik, die nirgends stattfand. « Die Musik, das war das, was man heimlich bei John Peel im britischen Truppensender BFBS hörte. Doch tanzen konnte man dazu nirgends, bis Galenza und ein paar Punkfreunde den FDJ-Kreisjugendklub Pablo Neruda auf der Insel der Jugend in Treptow kaperten und dort mit »X-MAL!« die erste DDR-Indie-Disco aufzogen. »Die machten da Filmabende und Töpfernachmittage, also öde Komplettbetreuung«, erinnert sich Galenza – mehr als 15 Besucher kamen selten zu den braven FDJ-Veranstaltungen. Einer seiner Freunde hatte beim Jugendklub eine Anstellung bekommen und konnte das Kollektiv überreden, ihr Programm zu erweitern. »Wir wollten Discoabende machen. Dafür brauchte man einen Discoschein und eine Prüfung seitens der Kulturämter. Dann gab es noch die 40-zu-60-Regel. Die besagte, dass 60 Prozent der Musik aus dem sozialistischen Lager kommen musste. Unsere Quote war konstant null.« Weil die Partys von Anfang an knallvoll waren, lies sie die FDJ gewähren.

Die Musik kam von Kassetten, die aus dem (West-)Radio aufgenommen waren, am Ende der Stücke redete immer Moderator John Peel rein, aber das störte niemanden. Platten fanden nicht den Weg in die Disco, auch wenn Galenza dank seiner Westoma einige hatte. »Das waren Kultobjekte, die hätte ich nie mitgebracht.« »Punk war der Soundtrack zum Untergang der DDR«, da ist sich Ronald Galenza sicher. Hier machte sich ein Individualismus breit in einer Gesellschaft, die einen hohen Konformitätsdruck ausübte. Anders auszusehen war eine gehörige Provokation in einem Staat, dem man nirgends entkam. Die Punks haben das System nicht gestürzt. Doch sie lehrten den Staat das Fürchten.