20:16
Warm und trocken soll das Wetter werden. Ein Glück. "Dann können wir ja morgen den Winterweizen und die Gerste dreschen." Annette Klauß schaltet den Fernseher aus, mechanisch wischt sie die letzten Abendbrotkrümel von dem runden Holztisch. Es ist das Esszimmer ihrer Eltern, die sind gerade im Urlaub. "Komm", sagt sie matt zu ihrem Freund, "lass uns fahren." Ihr Freund Ulrich Schelkle lässt noch schnell die Kühe auf die Weide. Dann machen sie sich mit Elias, ihrem sechs Wochen alten Sohn, auf den Weg in ihr eigenes Zuhause: über die Hügelkuppe, auf die andere Seite der Felder. Ein normaler Zwölf-Stunden-Tag geht zu Ende.

Vor einem Jahr hat Annette zusammen mit Uli den Biohof ihrer Eltern in Wendlingen übernommen, einem kleinen Ort südlich von Stuttgart gelegen. Annettes sechs Geschwister hatten kein Interesse an dem Hof. Sie war 26 Jahre alt, hatte gerade ihr Agrarwirtschaftsstudium an der Fachhochschule beendet. Kurz darauf wurde sie schwanger. Mit Uli hat sie ein kleines Häuschen jenseits der Felder gemietet. Sie wollten ein bisschen Abstand vom Hof - es ist ihr Arbeitsplatz, das Zuhause von Annettes Kindheit. Der Tag war lang. 
Annette stillt ein letztes Mal ihren Sohn, es ist gerade dunkel geworden. Schlafenszeit. 

5:47 
Die beiden Jungbauern wachen mittlerweile von allein auf. Sie wissen, dass es dann zwischen halb sechs und sechs Uhr sein muss, Zeit, die Kühe zu melken. Uli bleibt liegen, heute Morgen kümmert er sich um Elias. Es ist noch ein wenig dämmrig, der Frühnebel reicht bis tief ins Gras und bringt die Überlandleitungen zum Bitzeln. Der Hahn kräht, auf der nahen Autobahn A8 herrscht Ruhe. Als Annette auf den Hof einbiegt, liegen die Milchkühe noch etwas verschlafen im Gras. "Los, La Paz! Vorwärts!" Sie muss mit dem Melken anfangen - wenn das Milchauto kommt, ist es halb acht. La Paz, Siddharta, 
Ascharina - sie sind so etwas wie ihr Reisetagebuch. "Immer wenn ich wieder zurück war, aus Südamerika, Indien, habe ich die neuen Kälber nach meinen Reisen benannt", erzählt sie, und dass ihr Vater das nicht so lustig gefunden habe. "Einige heißen wie Schweizer Almen." Da war sie noch die Tochter auf dem Bauernhof, da wollte sie noch nicht Bäuerin werden. Sie verreiste, sooft sie Zeit hatte: nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau, "eine fürchterliche Zeit", und bevor sie anfing, die Fachhochschulreife nachzuholen. Als sie dann auf den Almen in der Schweiz arbeitete, wusste sie, dass ein Landwirtschaftsstudium die richtige Idee war.

Sie schlüpft in Gummistiefel und geht zum Stall, im Laufen zieht sie ein altes Karohemd über und bindet das blaue Kopftuch fest. "Ich bekomme öfter einen Kuhschwanz an den Kopf. Und ich habe keine Lust, mir jeden Tag die Haare zu waschen", sie grinst. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie sie monatelang allein durch Südamerika reist. Aber die überzeugte Bäuerin ist sie ebenfalls, sie, die mit braun gebrannten, sehnigen Armen die Kühe in den Melkstand treibt. Sie will mit dem Kreislauf der Natur leben, nicht dagegen. "Nachhaltigkeit" ist ein Wort, das sie sehr oft benutzt. Und sie sieht tatsächlich aus wie eine Bäuerin aus dem Bilderbuch: Sie hat, was man rosige Wangen nennt, und ihre Augen strahlen den ganzen Tag und schimmern dabei hellblau.

Annette steht im Stall und würde trotzdem gern wieder losziehen, aber jetzt, mit Kind und Hof, ist das unmöglich. Tauschen will sie nicht, aber manchmal hat sie Sehnsucht nach der Alm. Sie würde auch gern den Sommer im Allgäu verbringen, wie ihre 14 Rinder. Das hat sie schon arrangiert, als sie im Herbst von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Sie wollte nicht so viel zu tun haben, wenn das Kind kommt. 

Schwanger zu sein hat ihr am Anfang gar nicht gepasst. "Ich hatte gerade den Hof übernommen, das war schwierig genug. Ich wollte mich richtig in die Arbeit stürzen." Aber sie und Uli sind ein gutes Team. "Manchmal geraten wir ein bisschen aneinander", Annette lacht. "So ist das halt, wenn zwei Experten aufeinander prallen." Uli mit den dunklen Locken und dem Allgäuer Dialekt ist auch auf einem Hof aufgewachsen, weiter im Süden. Einer seiner Brüder hat ihn übernommen, er selbst hat Maschinenbau studiert. Sein Plan war, früh in Rente zu gehen und dann einen eigenen kleinen Bauernhof zu bewirtschaften, "mit ein paar Hühnern, ein paar Kühen, ein bisschen Ackerbau". 

Den studentischen Rhythmus hatte er schnell satt und fing an, auf dem Wochenmarkt zu arbeiten: "Wenn die anderen von ihren Studentenpartys gekommen sind, habe ich schon den Stand aufgebaut." Jetzt hat der 28-Jährige eine Frau, einen Sohn und einen Hof, aber wer weiß, wie lange sie noch bleiben. Bald fährt der ICE von Stuttgart nach Ulm genau da entlang, wo jetzt der Stall steht. "Eigentlich sollten wir schon seit zwei Jahren hier weg sein", aber die Bahn hat Verspätung. Beunruhigt sind sie nicht, sie überlegen, einen Hof im Allgäu aufzumachen. "Wir wollen auf jeden Fall in eine ländlichere Gegend", meint Annette. "Hier vor Stuttgart ist zu viel Industrie. Und die A8."

Ein paar der 35 Kühe werden nicht gemolken, da sie bald kalben. Annette nimmt einen Schluck warme Milch, ihr Frühstück, und deutet auf zwei Poster, die neben dem Stalleingang hängen. Die Brunstkalender sind Orientierungshilfen, auf denen die Bauern ablesen, wann welche Kuh besamt wurde und wann sie ungefähr kalben wird. Seit sie im Januar einen Zuchtbullen gekauft haben, sind sie nicht mehr auf die Arbeitszeiten des Tierarztes angewiesen. Der kommt höchstens noch, um nachzuschauen, ob die natürliche Besamung geklappt hat. So wie heute Mittag: Dann wird feststehen, ob Anke trächtig ist.

7:32 
Der Milchlaster ist fort, die Kühe sind mit leeren Eutern zurück auf der Weide. Der Hahn kräht noch immer. Zeit fürs zweite Frühstück. Annette zieht die Stiefel aus und macht es sich in der Sonne gemütlich. Sie trinken Kaffee und entscheiden, heute doch nicht zu dreschen, morgen wird das Korn umso trockener sein.

Es ist ein Job, bei dem man flexibel sein muss. "Eine Armbanduhr? Brauchen wir nicht." Nur Annettes älteste Schwester trägt eine, sie führt den Hofladen. Annette und Uli haben wenig Einfluss auf ihren Terminplan. Das Wetter bestimmt, wann sie säen können, wann das Korn reif ist und ob es dann auch geerntet werden kann. Was sie säen, ist allerdings auf Jahre geplant: "Klee, Winterweizen oder Kartoffeln", sagt Annette. "Dann Hafer, Ackerbohnen, Winterroggen, Dinkel. Das sind sieben Jahre, der normale Fruchtfolgeplan."

Im Herbst ist der Winterweizen dran. Der Herbst ist sowieso wichtig. Im September bekommen sie gewöhnlich Subventionen ausgezahlt, mit größeren Anschaffungen warten sie so lange. Aber jetzt gibt es eine neue Regelung. Wann dieses Jahr das Geld überwiesen wird, ist unklar. Wie immer hat Annette den Antrag pünktlich zum 15. Mai abgegeben, "da muss ich jedes Mal ein paar Tage im Büro sitzen, die wollen alles ganz genau wissen". Uli ist über die Felder gekommen, wie gewohnt barfuß, Elias im Tragetuch vor seinem Bauch. "Ich bin froh, dass Annette die Anträge macht und ich derweil ein paar Sachen reparieren kann." Eine Maschine funktioniert dann wieder - oder nicht. Formulare ausfüllen, irgendwo hinschicken und dann warten, was passiert, das ist etwas anderes.

12:08 
Es gibt Spaghetti Bolognese. Uli hat keine Zeit, er ist noch auf dem Feld und breitet das gemähte Gras zum Trocknen aus. Annette schaut aus dem Fenster: "Der Hahn kommt, das war klar." Ein Wagen fährt auf den Hof, der Tierarzt ist da: Dr. Hahn. Das Essen wird kalt. 

13:57 
Uli ist auf der Weide. Annette stillt Elias und schiebt ihn nach Hause. "Ich merke die langen Tage, mittags muss ich mich hinlegen." Sie klingt selbst ein wenig verwundert, als sie das sagt. Ausruhen, das ist nicht ihre Art. Kurz vor der Geburt hat sie sogar noch geholfen, eine Aktion gegen Genmais zu organisieren, für die Bürgerinitiative, welche sie mit drei Kollegen gegründet hat. "Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, dann geht das auch neben dem normalen Betrieb", findet sie. Ihr Vater stellte schon 1981 auf ökologische Landwirtschaft um, "er war einer der Ersten. Und er war auch einer der Ersten, die gegen genmanipuliertes Saatgut vor Gericht gezogen sind."

17:33 
"Sommer ist, wenn man barfuß laufen kann", das ist Ulis Definition. Annettes nackte Füße sind bunt geworden im Laufe des Tages. Spuren vom Karottenbeet, von der Gülle, ein paar Strohhalme kleben an ihnen fest. Den Abendverkehr der Autobahn hört man im Stall nicht. Sie melkt die Kühe, wie jeden Abend. Auf ihren Füßen landen noch ein paar Spritzer Milch. 

19:48 
"Morgen", sagt der Mann im Fernsehen, "morgen wird es warm bleiben." Morgen werden sie endlich die Gerste dreschen. Annette, Uli und Elias gähnen. Der Hahn kräht.