Eigentlich wollte der Lehrer Martin Stöckl in der 9b nur die Grundfunktionen von demokratischen Wahlen durchnehmen: Kontrolle, Partizipation, Repräsentation, Legitimation und Integration. Doch dann geht es plötzlich um Hacker und Russland, die Vergütung von Wahlhelfern – und die Sinnhaftigkeit der „Juniorwahl“. Jene simulierte Bundestagswahl, bei der knapp eine Million Jugendliche an über 3.400 Schulen mitmachen, unter ihnen auch die Teenager aus der Klasse 9b am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium in Berlin.

„Richtig, Moritz, die Wahlbeteiligung gerade unter den jungen Wählern ist sehr viel niedriger als bei älteren Bürgern“

Nicht jeder in der Klasse findet das gut: „Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand von uns die Wahlprogramme der Parteien anguckt“, sagt Luka, ein großer, lebhafter Junge mit schwarzem Kapuzenpulli. „Wir wählen doch, was unsere Eltern wählen oder weil Grün eine schöne Farbe ist.“ Moritz, ein schlanker Schüler mit Locken, widerspricht, nicht weniger energisch: „Die Wahlbeteiligung ist viel niedriger als vor 20, 30 Jahren. Wenn man Jugendliche motivieren will, sich zu beteiligen, muss man sie für Politik begeistern.“ Lehrer Stöckl findet für beide Schüler Lob: „Guter Einwand, Luka. Ist die Wahl tatsächlich frei, wenn wir uns in unserer Entscheidung an der Präferenz anderer orientieren? Und richtig, Moritz, die Wahlbeteiligung gerade unter den jungen Wählern ist sehr viel niedriger als bei älteren Bürgern. So eine Spielwahl ist vielleicht ein Angebot, über das man Jugendliche für Politik interessieren kann.“

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Hier gibt der Lehrer Anweisungen

Dann noch der eine oder andere Fingerzeig vom Lehrer

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Die Wahlkabine wird gebaut

Wahlkabine aufbauen

Nach der Stunde ist Martin Stöckl von seinen SchülerInnen beeindruckt. Die erste von insgesamt sechs Vorbereitungsstunden für die Juniorwahl ist gut gelaufen: „Ich habe die Klasse dieses Jahr zum ersten Mal. Ich bin erstaunt, wie viel Interesse da war.“ Kommende Woche, für die nächste Vorbereitungsstunde, will er eine Wahlurne mitnehmen. Die Schüler sollen ein Wahllokal einrichten, eine Wahlkommission wählen, die dann die korrekte Stimmabgabe überwachen soll, und anhand der Programme der Parteien Wahlplakate erstellen und in der Schule aufhängen. „Das ist die Zeit, wo unsere Chemie- oder Mathelehrer mitbekommen: Jetzt steht wieder eine Wahl an.“

Studien zeigen, dass die Juniorwahl das Schülerinteresse für Politik deutlich hebt und sogar die Wahlbeteiligung der Eltern steigert

Martin Stöckl unterrichtet in der 9b Politikwissenschaft und Geschichte und führt die Juniorwahl selbst durch. Am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium nehmen rund 700 Jugendliche daran teil, alle Klassen von der siebten bis zur zwölften. Seit 2011 organisiert Stöckl die Vorbereitungen. Immer dann, wenn Bundestags- oder Europawahlen anstehen oder in Berlin das Abgeordnetenhaus gewählt wird. Der Urnengang findet jeweils in den Geschichts- oder Politikstunden statt in der Woche vor der „richtigen“ Wahl. Das Wahlergebnis schaut sich die ganze Schule dann am Montag drauf gemeinsam an. Fünf Mal bislang, mit sehr erstaunlichen Ergebnissen: „Einmal lag die Tierschutzpartei vor der CDU“, sagt Stöckl, graues Sakko, leicht ergrautes Haar, und lacht. „Das liegt vor allem an den jüngeren Schülern. Die wählen sehr idealistisch. In der Oberstufe dagegen sind viele Schüler politisch aktiv, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. Da schneiden in der Regel die Linke und die Grünen am besten ab.“
              

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Eine Schülerin gibt ihren Wahlschlüssel bei den Schülern, die die Wahlaufsicht spielen ab und darf danach am Computer wählen

Den eigenen Wahlschlüssel bei der Wahlaufsicht abgeben

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An diesem Computer wurde gewählt

Und dann kann endlich gewählt werden – an diesem Computer

Die Idee zur Juniorwahl entstand 1999, als der Parteienforscher Jürgen Falter in einer Talkshow empfahl, Schüler in Deutschland ähnlich früh wie in den USA an demokratische Abläufe heranzuführen. Nach dem Vorbild des amerikanischen „KidsVoting“ entstand die deutsche Juniorwahl. Noch im selben Jahr organisierte sie der Verein Kumulus an drei Berliner Schulen. Seither hat sich die Anzahl der teilnehmenden Schulen mehr als vertausendfacht. Wohl auch, weil verschiedene wissenschaftliche Studien nahelegen, dass die Juniorwahl das Interesse der Jugendlichen für Politik hebt, den NichtwählerInnen-Anteil senkt (laut einer Untersuchung der Universität Stuttgart von 22 auf unter 7 Prozent), zu mehr politischem Austausch an Schulen und in Familien führt – und sogar die Wahlbeteiligung der Eltern steigert.

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Schülerinnen sitzen an Computern nachdem sie gewählt haben

Nach der Wahl: Zeit zur freien Verfügung, die auch gerne an den Computern verbracht wurde

Demokratieerziehung nennt Martin Wagner das. Wagner ist Schulleiter am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium. Er freut sich, wie ernst die Schüler die Wahl nehmen. Vor allem Themen wie Gentrifizierung, Umweltschutz oder Migration lägen vielen am Herzen. Mithilfe des Wahl-O-Maten, dessen Fragen aktuelle politische Debatten wie nach der Obergrenze für Flüchtlinge oder dem Braunkohleabbau aufgreifen, überprüfen die Jugendlichen, wie die politischen Parteien zu diesen Inhalten stehen. „Bislang hat die AfD bei der Juniorwahl schlecht abgeschnitten“, sagt Wagner und vermutet mit Blick auf seine Schule: „Es ist unter Schülern schlicht uncool, AfD zu wählen.“ Am besten hatten dort die Linke, die Grünen und die SPD abgeschnitten. Bundesweit sahen die Ergebnisse anders aus, Wahlsieger waren dort die CDU/CSU, gefolgt von der SPD. Wie schlecht oder gut die Parteien dieses Mal bei den GymnasiastInnen abschneiden, zeigt sich am Tag nach der Bundestagswahl. Vorausgesetzt, mit der Wahlsoftware läuft alles rund. Das Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium ist eine jener Schulen, die nicht per Brief wählen, sondern am Computer. Trotz der Bedenken aus der 9b, dass die Online-Wahl leicht gehackt werden könnte.

Fotos: Hahn & Hartung