Es wird derzeit viel über Russland geredet und berichtet – und das oft von Nicht-Russen. Aber die besten Russlandkenner sind wohl immer noch die Russen selbst. Wir möchten mehr darüber wissen, wie sie ihr Land sehen und haben daher russische Journalistenkollegen um kurze Statements gebeten. Manche betreffen ganz normale Alltagsphänomene, andere gehen auch die aktuelle Krise in der Ukraine ein. Die vierte Folge:

cms-image-000045397.jpg

cms-image-000045397.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Das Leben in Russland kann man mit einem Ziegelstein vergleichen, der furchtbar schwer ist und von seltsamer Konstruktion. Dieser Ziegelstein symbolisiert all die Dinge, die das Leben in Russland zur Last machen: enge Wohnungen, überteuerte und minderwertige Lebensmittel und ebensolche Klamotten, die man nur benutzen kann, um sich später damit ins Grab zu legen. Dazu raue und manchmal aggressive Menschen und das Problem, eine Arbeit zu finden. Wenn du es nicht verstehst zu entspannen, dann hast du bei uns keine Chance.

Es würde ewig dauern, all das aufzuzählen. Jeder Tag bringt eine neue Herausforderung, die deine Stärke und Standfestigkeit testet – deine Fähigkeit, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Während die Menschen im Alltag in Westeuropa oder in den USA relativ schnell eine Gewissheit entwickeln, die sie zuversichtlich an morgen denken lässt, beginnt jeder neue Tag in Russland mit der existenziellen Frage: Was hat der Staat heute wieder für einen Fallstrick für mich vorbereitet? Werden die Abgeordneten ein Gesetz durchwinken, das Frauen verbietet, sich gegen sexuelle Attacken zur Wehr zu setzen? Wird man sich neue Gebühren ausdenken, um kleinen Unternehmen, die wirtschaftlich ohnehin kaum noch atmen können, weiter die Luft zu nehmen? Bekommst du auf der Arbeit dein Gehalt mal wieder nicht? Du wirst dennoch gezwungen sein, deine laufenden Kosten zu begleichen. Diese Auswahl von Schwierigkeiten habe ich mir nicht ausgedacht. Es sind alles Dinge, die mir oder meinen Freunden in letzter Zeit zugestoßen sind. Kürzlich weigerte sich die Versicherung eines Freundes, dessen Autoreparatur nach einem Unfall zu bezahlen - ohne Angabe von Gründen. Diese Kalamitäten helfen dir natürlich einerseits, im Kopf flexibel und damit in guter Form zu bleiben. Andererseits wirst du so ständig unter Stress gesetzt. Du musst dich permanent selbst überwinden.

Die Russen sagen, dass es in Russland zwei wesentliche Probleme gibt: die Dummköpfe und die Straßen. In letzter Zeit habe ich meine Einstellung zu diesem ausgelutschten Klischee geändert, und ich will hier an den russischen Schriftsteller Michail Saltykow-Schtschedrin erinnern, der neben den beiden Hauptproblemen des russischen Volkes auch die Gaunerei und die Trunksucht als Probleme erkannte. Das bedeutet nicht, dass dich auf der Straße irgendein Betrunkener anfällt (auch wenn das schon mal vorkommt), aber es sind genau diese beiden Einsichten über unser Volk, die dich während deines ganzen russischen Lebens begleiten. Von Kindheit an gewöhnst du dich daran, dass jemand aus deiner Familie oder deinem Bekanntenkreis „irgendetwas“ von der Arbeit mit nach Hause bringt. Man „leiht“ sich bei seinem Arbeitgeber Sand oder Kies, um die Auffahrt zu reparieren. Monströse Dimensionen nimmt diese Korruption in den Hallen der Macht an. Und dann verstehst du, dass es nicht überraschend ist, dass der Mehrheit der Bevölkerung eine ordentliche Ausbildung verweigert wird, wie ihr auch eine gute medizinische Versorgung und soziale Hilfen verwehrt bleiben.

Mit Ausnahme von Moskau und Sankt Petersburg wird in Russland nichts dafür getan, damit sich die Menschen wohlfühlen. Ich lebe in Smolensk, einer 300.000-Einwohner-Stadt im Westen Russlands. Es ist eine sehr alte und schöne Stadt, die in der Geschichte Russlands eine bedeutende Rolle gespielt hat, weil Smolensk als Schutzschild fungierte, wenn ausländische Mächte versuchten, Moskau einzunehmen. Die Stadt liegt direkt an der Trasse, die von Brest in Belarus nach Moskau führt. Aber die meisten Menschen fahren einfach vorüber. Sie wissen nichts über die Geschichte dieser Stadt, was mich traurig macht.

Wenn ihr mich fragt, ob ich mein Land und meine Stadt liebe, dann antworte ich: Ja, das tue ich. Es wäre komisch, etwas Gegenteiliges zu behaupten, wenn du im Hier und Jetzt lebst. Es gibt viele bei uns, die sich nicht für Patrioten halten. Ihnen fällt es natürlich auch leichter, wegzugehen und irgendein anderes Land zu wählen, wo sie leben können - was nicht wenige auch tun. Ich liebe meine Stadt aufrichtig. Ich sehe gewisse Mängel und Unzulänglichkeiten, und als Journalist werde ich weiterhin darüber schreiben. Ich werde versuchen, etwas zum Besseren zu verändern.

Ja, das Leben in Russland kann man mit einem Ziegelstein vergleichen, der furchtbar schwer ist und von seltsamer Konstruktion. Aber aus Ziegelsteinen baut man auch standhafte und langlebige Gebäude. Wenn man die Schwierigkeiten unseres Lebens ständig stemmen muss, dann formt das auch die Muskeln und stärkt: deine Willenskraft.

cms-image-000045398.jpg

cms-image-000045398.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Michail Jefimkin ist 28 Jahre alt und arbeitet als Redakteur bei der Smolensker Redaktion der Zeitung Argumenty i Fakty. Zudem arbeitet er als Englischlehrer und Touristenführer. Er mag Martial Arts, Igel und Reisen.

Organisiert und übersetzt hat die Statements der russischen Journalisten unser Autor Ingo Petz, der in Osteuropa über ein großes Netzwerk verfügt, weil er selber oft von dort berichtet.