Es war ein Ausstand, kein Aufstand. Ein Streik wie jeder andere auch. Die Arbeiter hatten mehrere Wochen auf ihren Lohn gewartet, bevor sie den Protest organisierten. Bummelstreiks gab es, dann Sitzstreiks und nächtliche Fackelzüge. Als das nichts nützte und die Stimmung unter den Arbeitnehmern immer verzweifelter und damit aggressiver wurde, erklärte sich sogar der örtliche Polizeichef solidarisch mit den Streikenden: „Bringt zu Ende, was immer ihr vorhabt.“ Zuletzt machten sich sogar zwei namentlich bekannte Arbeiter daran, die Baustelle zu demolieren. Irgendwann müssen ihre Forderungen erfüllt worden sein, denn die Quelle, ein in Turin lagerndes Papyrus, berichtet von keinen weiteren Streiks im 29. Regierungsjahr des Pharaos Ramses III. Und die Tatsache, dass es später auf anderen Baustellen auch noch oft zu Arbeitsniederlegungen kam, lässt den Schluss zu, dass der weltweit erste verbriefte Streik vor 3169 Jahren von der ansonsten nicht eben zimperlichen Obrigkeit des alten Ägypten keinesfalls gewaltsam beendet worden ist. Es wurde offenbar verhandelt.

Und das wird es heute noch. Wobei das Pendel der Macht über die Jahrhunderte oft in die eine, manchmal aber auch in die andere Richtung ausschlug. Hier das Kapital, da das Proletariat. Die einen geben Arbeit, die anderen nehmen sie. Zuletzt haben die, die arbeiten, wieder einen kleinen Sieg errungen: Rund 600.000 der etwa 800.000 Beschäftigten in der Pflegebranche erhalten seit August einen gesetzlichen Mindestlohn, in Altenheimen und der ambulanten Krankenpflege im Westen mindestens 8,50 Euro und im Osten 7,50 Euro. In zwei Stufen soll der Mindestlohn bis Mitte 2013 dann auf neun Euro im Westen und acht Euro im Osten steigen. Viel ist das immer noch nicht für die, die andere Menschen waschen, füttern, an- und ausziehen oder im Rollstuhl durch den Park schieben, aber immerhin. Den Mindestlohn hat das Bundeskabinett auch beschlossen, um die Pfleger vor der Marktöffnung im Mai des nächsten Jahres zu schützen, wenn verstärkt osteuropäische Unternehmen mit Dumpinglöhnen nach Deutschland drängen werden. Denn nicht in allen europäischen Demokratien ist es erwünscht, die Beschäftigten per Betriebsrat oder gar einem eigenen Posten im Aufsichtsrat über unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen zu lassen, daher braucht es Gesetze. Und die machen die sozial abgefederten Marktwirtschaften fast zu einer Insel der Seligen in einer Welt der Ausbeutung.

Zum Kampf auf Leben und Tod

In Deutschland begann die Ausbeutung, als sich im 19. Jahrhundert unter preußischer Herrschaft im Ruhrgebiet die Schwerindustrie entwickelte – und die Menschen massenhaft vom Lande in die Hüttenwerke von Essen, Duisburg, Gelsenkirchen oder Bochum strömten. Um dort Roheisen zu produzieren oder den Stahl für die Eisenbahnen zu gießen, für Bügeleisen – und natürlich für die Kanonen, mit denen das junge Reich bald von sich reden machen sollte. Aufkeimenden Konflikten zwischen Kapital und Arbeit begegnete die Obrigkeit so autoritär wie Kaiser Wilhelm II, der erklärte: „Gegen die Arbeiterbewegung bin ich zum Kampf auf Leben und Tod bereit und entschlossen.“ Das sollte sich erst 1918 ändern. Nach dem ersten verlorenen Weltkrieg einigten sich Carl Legien (Vorsitzender der Gewerkschaften) und der Industrielle Hugo Stinnes (Vorsitzender der Unternehmerverbände) erstmals darauf, ihre Interessen gegenseitig anzuerkennen. Vor allem änderte damit die Großindustrie, in heller Panik vor drohenden Konflikten mit den Arbeitern, grundsätzlich ihre Politik einer strikten Ablehnung gegen eine organisierte Belegschaft. Künftig erkannte das Kapital die Gewerkschaft als Tarifpartner an. Das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen gilt als erster „Sozialpakt“ und Modellfall des „rheinischen Kapitalismus“, der eine soziale Marktwirtschaft zum Ziel hatte.

Ab 1945, wieder nach einem Krieg, erfolgte der zweite entscheidende Einschnitt im Verhältnis von Kapital und Arbeit, als sich die Siegermächte Hitlers Bastionen der Kriegswirtschaft vorknöpften – die altbekannten Industriekonglomerate an der Ruhr. Kaum war die Entflechtung der Eisen- und Stahlindustrie abgeschlossen, sorgten die Alliierten dafür, dass die Aufsichtsräte in Montanunternehmen mit mehr als tausend Beschäftigten paritätisch auch mit Arbeitnehmervertretern besetzt wurden. Ein Geschenk, das den Aufstieg der Gewerkschaften und damit den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft nach 1945 erst ermöglicht hat. Auch wenn er sich wegen der Tarifautonomie von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eigentlich raushalten müsste, sitzt heute manchmal auch der Staat mit am Verhandlungstisch. Freundlich lächelnd, weil er sich in der Regel keinen hitzigen Arbeitskampf wünscht, sondern eine stabile „Sozialpartnerschaft“ aller Beteiligten. Auch sprechen wir gerne von einem „gestaltenden Miteinander“ zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Ziel ist in unserer sozialen Marktwirtschaft nicht mehr, wie noch von den Kommunisten gefordert, die Abschaffung der „herrschenden Klasse“ durch die Machtergreifung einer „geknechteten Masse“ – sondern eine milde Konsenspolitik, die gegensätzliche Interessen der beiden Parteien in allgemeines Wohlgefallen auflöst.

Die Realität sieht oft anders aus, auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die betriebliche Mitbestimmung unlängst noch als einen „nicht wegzudenkenden Teil unserer sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnete. Inzwischen aber gibt es in Deutschland schon rund 40 Firmen, die sich den Mitbestimmungsgesetzen entziehen – darunter der Paketdienst United Parcel Service (UPS) oder die Fluggesellschaft Air Berlin. Manchmal drohen Firmen, in denen die Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, mit einer Verlagerung ihrer Produktion ins Ausland – oft in Billiglohnländer. Das macht es für die Gewerkschaften schwerer, ihre Forderungen durchzusetzen. Jedes Unternehmen, das seine Arbeitsplätze aus Deutschland abzieht – und seien sie noch so schlecht bezahlt –, lässt die Gewerkschaften wie Jobkiller aussehen. Darüber hinaus spalten sich immer mehr Gewerkschaften in Untergewerkschaften auf (es gibt zum Beispiel eine für Piloten oder Lokführer), die dann mit den Unternehmen eigene Tarife für ihre Mitglieder aushandeln – mit der Folge, dass zuweilen in ein und demselben Unternehmen unterschiedliche Arbeitszeiten gelten oder verschiedene Löhne gezahlt werden, je nach Tätigkeit. Mit der Tarifeinheit ist dann auch oft der soziale Frieden dahin.

Eine Renaissance der Solidarität steht bevor

Ein Frieden, der auch von anderer Seite her ernsthaft bedroht ist. Denn den Gewerkschaften laufen europaweit die Mitglieder davon, und jedes einzelne verlorene Mitglied schwächt das Mandat der Gewerkschaften, die Interessen der Beschäftigten gegenüber denen der Unternehmen zu vertreten. In Finnland sind mehr als 70 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, in Frankreich nur acht Prozent. Deutschland dümpelt mit 20 Prozent im unteren Mittelfeld, hinter Bulgarien und knapp vor Portugal, Tendenz: fallend. Es gibt zwar immer noch riesige Gewerkschaften wie Ver.di mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern, aber die schiere Größe täuscht. So ist Ver.di aus schrumpfenden Einzelteilen entstanden, unter anderem aus der „Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ (ÖTV) und der „Industriegewerkschaft Medien“. Um den Bedeutungs- und Mitgliederverlust aufzuhalten, rät der Soziologe Oskar Negt den Gewerkschaften als Weg aus der Krise, „sich nicht auf eine trotzige Verteidigungshaltung zu versteifen und darauf zu warten, dass die antigewerkschaftlichen Ressentiments wieder nachlassen“. Stattdessen sollten sie ihr Wirkungsfeld erweitern auf Wohngebiete, Stadtteile, Familie und Erziehung, Verkehr und Ökologie – das alles bedarf laut Negt einer gesellschaftlichen Neuorganisation und der sozialen Expertise der Gewerkschaften. Tatsächlich könnte der zentrale Grundwert jeder Gewerkschaft auch fern des Arbeitsplatzes zum gesellschaftlichen Frieden beitragen und eine Renaissance erleben: die Solidarität. Auch der wirtschaftliche Strukturwandel dürfte zum Mitgliederschwund der Gewerkschaften beigetragen haben. Warum sollte man für die 35-Stunden-Woche streiken, wenn Wirtschaft und Politik längere und flexiblere Arbeitszeiten als Allheilmittel preisen? Und während die Schwerstarbeit in Kohlegruben und an erbarmungslosen Fließbändern noch der rechte Platz für den Arbeitskampf erschien, wirkt der heutige Existenzkampf mit dem Laptop doch auf den ersten Blick ungleich bequemer. Dabei kann es auch dort zuweilen schmutzig zugehen.