Null. Eins. Sieben. Sieben. Drei Tage braucht Daniel, um die Nummer zu wählen, probiert es und bricht ab und wählt wieder. Dieser Anruf, denkt er, ändert mein Leben. Daniel, der eigentlich anders heißt, hat seine Jugend als Neonazi verbracht. Erst lauschte er dem Großvater, der von der Hitlerjugend und der Lagerfeuerromantik erzählte. Dann rechtsextremer Musik, die von Menschen wie seinem Großvater handelte. Er schloss sich Hooligans an, gründete eine Kameradschaft, positionierte sich offen als Nazi. Er verlor deswegen seinen Job als Personenschützer und widmete sich hauptberuflich dem „nationalen Widerstand“: Demos anmelden, Flyer drucken, Mailverteiler organisieren. Gewalt? Wohl auch. Vorstrafen? Er will nicht zu konkret werden. „Wenn ich Geld für die Arbeit bekommen hätte“, sagt Daniel, „wäre ich jetzt reich.“

Doch irgendwann mit Mitte 20 kamen Zweifel, nicht von heute auf morgen, sie schlichen sich eher in sein Leben. „Ich war felsenfest davon überzeugt, dass der Tag X kommen wird und die BRD zusammenbricht. Aber man rennt letztlich immer wieder gegen eine Mauer“, sagt er. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich gesellschaftlich in der untersten Schublade gelandet war.“ Arbeit, Familie, Frau, Kind, das normale Leben – Daniel bewegte sich Lichtjahre entfernt davon. „Ich habe gemerkt, dass ich am Scheideweg stand.“ Noch tiefer, noch verbissener in den Kampf. Oder raus. Daniel wählte die Nummer von Exit, einer Aussteigerinitiative, die Rechtsextremen zurück in die Gesellschaft hilft. Heute sitzt der 35-Jährige am anderen Ende der Leitung und berät selbst Nazis, die der Szene den Rücken kehren wollen. Der Aussteiger ist Ausstiegshelfer geworden. Auch eine Art Wiedergutmachung, sagt er.

Es gibt eine Reihe solcher Programme in Deutschland. Exit ist die älteste private Initiative, sie wurde 2000 vom ehemaligen Kriminaloberrat Bernd Wagner gegründet und hat seither nach eigenen Angaben 334 Rechtsextreme auf ihrem Weg aus der Szene begleitet. Daneben gibt es staatliche Programme. Die Konzepte sind so vielfältig wie die Angebote: Manche wenden sich an jugendliche Mitläufer, andere an inhaftierte Straftäter. Mal ist das Jugendamt zuständig, mal das Landeskriminalamt oder der Verfassungsschutz. In manchen Fällen müssen die Rechtsextremen selbst den ersten Schritt tun, andere Programme schicken ihre Mitarbeiter in die Szene, um aktiv für den Ausstieg zu werben. Kriminalhauptkommissar Gerd Maier vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg zum Beispiel klingelt regelmäßig bei den Nazis an der Tür: „Maier ist mein Name, ich schaue nach dem Rechten.“ 30 polizeibekannte Rechtsextreme haben er und seine Kollegen neulich in Karlsruhe besucht, um ihnen das baden-württembergische Ausstiegsprogramm nahezulegen. In Internetforen kursieren inzwischen Warnmeldungen, wenn die Ausstiegswerber unterwegs sind, in manchen werden sogar die Autokennzeichen genannt. „Sollten jemals solche Spacken bei mir auftauchen, verfahre ich wie mit den GEZ-Kopfgeldjägern und knalle die Türe zu“, schimpft da einer. Für Maier ein gutes Zeichen, die Rechtsextremen nehmen das Ausstiegsprogramm wahr: „Wir wollen uns in der Szene nachhaltig bekannt machen.“ Manch einer meldet sich erst Jahre später beim Aussteigerprogramm.

Rund 380 Rechtsextreme haben mithilfe des Baden-Württemberger Programms Big Rex der Szene den Rücken gekehrt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt seit Kurzem auch die Aktion Neustart, das Aussteigerprogramm des niedersächsischen Verfassungsschutzes, das vor allem auf junge Einsteiger zielt. Taucht ein Name in den Polizeiberichten auf, der vorher noch nicht bekannt war, fahren die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes raus und suchen das Gespräch: Was fasziniert dich an der braunen Ideologie? Ein Großteil der Ausstiegsprogramme, die die Innenminister ab 2001 initiiert haben, ist beim Verfassungsschutz angesiedelt – was auf manchen durchaus befremdlich wirkt. Schließlich wirbt der Geheimdienst gleichzeitig unter den Rechtsextremen um V-Männer, also verdeckte Ermittler. Ein Interessenkonflikt? In NRW jedenfalls wurde kürzlich bekannt, dass der Verfassungsschutz jahrelang ein Aussteigerprogramm nutzte, um Informationen abzugreifen. Die Landesregierung will jetzt überlegen, wie sich V-Mann-Programm und Ausstiegsangebote sauberer trennen lassen. In Rheinland-Pfalz hat man sich bewusst dafür entschieden, das Ausstiegsprogramm nicht bei der Polizei oder dem Verfassungsschutz anzusiedeln – sondern beim Landesjugendamt in Mainz. Schließlich sei Rechtsextremismus vor allem ein soziales Problem, sagt Angelika Stock, die dort die Projekte gegen Rechtsextremismus leitet. „Die Aussteiger sollen nicht das Gefühl bekommen, dass ihre Daten für Ermittlungen gegen sie verwendet werden.“

Mainz nutzt das klassische Konzept: eine Hotline, die Ausstiegswillige von sich aus anrufen müssen. Wer ernsthaft aus der Szene will, so die Idee, muss auch selbst die Initiative dazu ergreifen. Im vergangenen Jahr klingelte das Aussteigertelefon 264 Mal. Es sind oft zögerliche Annäherungen: Die Anrufer legen nach ein paar Worten wieder auf, melden sich Wochen später erneut. Vor dem ersten Treffen müssen die Ausstiegsinteressenten eine Person angeben, die eine Referenz über sie abgeben kann, etwa die Polizei oder einen Fallbetreuer bei der Arbeitsagentur. Wer ist der Anrufer? Wie ernst ist es ihm mit dem Ausstieg? „Wir möchten nicht instrumentalisiert werden“, sagt Angelika Stock. „Manchmal melden sich Leute kurz vor einem Strafverfahren bei uns, weil sie so auf ein milderes Urteil hoffen.“

Die Mitarbeiter beraten die Aussteiger, wie man sich am geschicktesten aus der Szene zurückziehen kann. Möglichst geräuschlos, ohne Verdacht zu erregen. Welche Vorwände gibt es, um einem Treffen mit den Kameraden fernzubleiben? Den Job, der gerade kaum Raum lässt? Die skeptische neue Freundin? Legenden zu stricken ist heikle Arbeit. „Das ist kein Sportverein“, sagt Stock. „Man kann nicht einfach sagen: Das war heute mein letzter Abend, ihr gefallt mir nicht mehr.“ Nicht immer klappt der stille Rückzug. Daniel, der über Exit ausstieg, gab den Vorsitz seiner Kameradschaft auf, behauptete, dass er sich wegen eines Gerichtsprozesses aus der Schusslinie bringen wolle. Aber die Kameraden riefen an: Wir können uns doch immer noch privat treffen. „Irgendwann wurden die Anrufe direkter“, sagt Daniel. Ein halbes Jahr hätten sie ihn beschattet, ihn fotografiert, wenn er sich mit Leuten außerhalb der Szene traf. Schließlich lauerten sie ihm auf dem Berliner Weihnachtsmarkt auf, umzingelten ihn. „Sag schon, was läuft mit dir?“ Zum ersten Mal in seinem Leben, sagt Daniel heute, hätte er wirklich Angst gehabt.

Auch Gerd Maier und seine Kollegen aus Baden-Württemberg wissen, wie brutal die Szene mit Aussteigern mitunter umspringt. Deswegen gehen sie auch mal bewusst Klinken putzen bei den Kameraden eines Aussteigers, natürlich ohne zu sagen, wen sie gerade betreuen. „Wie läuft es eigentlich mit Ihrer Bewährungsstrafe?“ So eine Frage von einem Kriminalhauptkommissar macht Eindruck – ein Vorteil, wenn die Ausstiegshilfe direkt bei den Sicherheitsbehörden angesiedelt ist. Mit der Hilfe von Exit zog Daniel weg aus Berlin, wohin, will er nicht sagen, es klingt wie eine Nacht-und- Nebel-Aktion, wie eine Flucht aus dem alten Leben. „Wir mussten aufpassen, dass niemand etwas mitbekommt, dass niemand in der Nähe war, der uns hinterherfuhr“, erzählt er. „Das war sehr konspirativ angelegt. Alles musste ganz schnell gehen, und die Tageszeit war sehr unschön für einen Umzug.“ Plötzlich fand sich Daniel alleine in der Fremde wieder. Ohne das alte Leben, aber auch noch nicht mit einem neuen.

„Da tut sich ein großes Loch auf, das viele nur schwer aushalten können“, sagt Angelika Stock vom rheinland-pfälzischen Ausstiegsprogramm. „Viele haben sich in der Szene sehr lebendig gefühlt und müssen jetzt einen neuen Sinn finden, für den sie morgens aufstehen.“ Die Ausstiegshelfer überlegen, was es sonst noch geben könnte: Einen neuen Verein? Alte Kontakte zu Schulfreunden? Eine Ausbildung? Die Helfer gehen mit zu Behörden, organisieren manchmal auch das Geld, damit sich Aussteiger rechtsradikale Tätowierungen entfernen lassen können. Gerd Maier hat sich kürzlich beim Landkreis dafür eingesetzt, dass ein Aussteiger nach der Haftentlassung einen Zuschuss für Kleidung bekam. „Der hatte nur rechte Klamotten.“ Viele Aussteiger sind völlig orientierungslos im deutschen Ämterdschungel. Und oft zeigt sich beim Ausstieg, dass das braune Gedankengut all die Jahre etwas anderes überdeckte, viel tiefere, persönlichere Probleme.

Thomas Mücke vom Verein „Violence Prevention Network“ geht zu jungen rechtsextremen Straftätern in den Knast, um mit ihnen ihr Weltbild aufzuarbeiten. Mücke legt Fotos auf den Boden, von Schwarzen, von Schwulen, von Ausländern, um herauszufinden, wie fest die Feindbilder sitzen. Manchmal laufen die Insassen rot an und wollen die Fotos zertrampeln. „Das ist ein Zeichen, dass da einer wirklich ein Problem hat.“ Die Straftäter, hat Mücke festgestellt, haben immer wieder ähnliche Biografien: zerrüttete Familien, Eltern, die trinken, kaum Anerkennung. „Die Gewalt entsteht aus der Lebensgeschichte, nicht aus der Ideologie“, sagt Mücke. „Die Ideologie kommt nur irgendwann als Rechtfertigung dazu. Aber sie hält die Gewalt aufrecht.“ In den Gruppensitzungen versucht Mücke, kleine Risse in das Gedankengebäude zu bringen, damit die Jugendlichen über sich und ihr Leben nachdenken. Sie diskutieren über den Bombenangriff auf Dresden, über die angebliche jüdische Weltverschwörung und immer wieder darüber, welcher Frust es eigentlich ist, der sie austicken lässt. 480 rechtsextreme Straftäter haben das Programm seit 2001 durchlaufen. Die Rückfallquote liegt mit rund 30 Prozent weit unter der üblichen von etwa 78 Prozent.

Der ehemalige Kameradschaftsführer Daniel und seine Kollegen bei Exit versuchen inzwischen mit ungewöhnlichen Mitteln in der Szene für den Ausstieg zu werben. Etwa mit der „Operation Trojaner-T-Hemd“. Für ein Rechtsrock-Festival schickten sie im vergangenen Sommer dem NPD-Kreisverband Gera 250 T-Shirts, eine angebliche Kleiderspende eines Sympathisanten. „Hardcore Rebellen: National und frei“ stand unter einem Totenschädel auf dem schwarzen Stoff. Die Konzertbesucher griffen begeistert zu. Nach dem Waschgang verschwanden Totenkopf und Schriftzug, und das T-Shirt offenbarte seine wahre Botschaft: „Was dein T-Shirt kann, kannst du auch. Wir helfen dir, dich vom Rechtsextremismus zu lösen.“