„Wir lassen unsere Brüder nicht im Stich. Niemand, der um sein Leben fürchten muss, wird zurückgeschickt.“ Oder: „Wir werden den Syrern nicht die Tür verschließen.“ Sätze des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der nicht müde wird, den Menschen in Syrien und den syrischen Flüchtlingen in seinem eigenen Land Mut zuzusprechen. Seit über vier Jahren tobt im Nachbarland ein Bürgerkrieg: Mehr als 3,9 Millionen Syrer sind mittlerweile ins Ausland geflohen, die meisten von ihnen sind in den Nachbarländern untergekommen. Allein im Libanon sind rund 1,2 Millionen Flüchtlinge registriert – bei einer Bevölkerung von geschätzt vier Millionen Einwohnern. Das würde in Deutschland 24 Millionen Flüchtlingen entsprechen.

Der 28-jährige Bassam Ali flüchtete vor zwei Jahren aus seiner Geburtsstadt Latakia nach Istanbul. Er ist Übersetzer für Englisch, Arabisch und Russisch und wartet gerade auf seine Einreisepapiere für Polen, wo er einen Job finden will und Freunde hat. Nie, so sagt er, habe er sich in Istanbul ungewollt oder unwohl gefühlt. „Natürlich werden wir Syrer nicht über­ all freudig empfangen, aber niemand legt uns Steine in den Weg oder diskriminiert uns.“ Ganz unbürokratisch habe er seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und sogar als Über­ setzer Arbeit gefunden. „Nirgends haben es die Syrer so leicht wie in der Türkei.“ Warum er dennoch nach Polen will? „Ich möchte einen europäischen Pass.“Schon im Juni 2011, unmittelbar nach Beginn des Aufstands gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad, versprach Erdogan den Flüchtlingen offene Grenzen. Innerhalb von zehn Tagen strömten fast 10.000 Syrer in die sichere Türkei, Ende 2014 lebten hier 1,6 Millionen Syrer, mittlerweile sollen es schon über zwei Millionen sein. Die Regierung hat mehr als 20 Flüchtlingslager errichtet, zu denen auch Schulen und medizinische Einrichtungen gehören. In den Camps bekommen die Bewohner Scheckkarten, auf die das UN-Welternährungsprogramm und die türkische Katastrophenschutzbehörde pro Monat knapp 30 Euro pro Flüchtling laden. Damit können die Menschen Lebensmittel und Textilien kaufen.

Für Syrer, die von der türkischen Regierung offiziell als Gäste bezeichnet werden, gibt es, anders als für Flüchtlinge aus anderen Ländern wie etwa dem Irak, theoretisch keine Restriktionen. Sie dürfen sich überall im Land niederlassen und kostenlos staatliche Krankenhäuser nutzen. Wer sich registrieren lässt und damit einen sicheren Aufenthaltstitel erhält, soll demnächst problemlos eine Arbeitsgenehmigung bekommen.

Natürlich reichen die Container- und Zeltstädte für all die Menschen nicht aus, der Großteil der Flüchtlinge muss bei Verwandten unterkommen, sucht sich auf eigene Faust eine Wohnung, manche leben auf der Straße. Zuweilen sitzen ganze Familien in Istanbul auf den Fußwegen, betteln oder verkaufen Wasserflaschen. Andere leben in Abbruchhäusern oder campieren in öffentlichen Parks.

Die meisten Syrer versuchen, sich entweder in Istanbul oder einer der großen Städte im Südosten durchzuschlagen. Im südtürkischen Gaziantep mit 1,9 Millionen Einwohnern ist jeder zehnte Einwohner mittlerweile ein Syrer. „Natürlich haben wir Probleme hier“, sagt Nursal Çakıro lu, der Vizegouverneur der Provinz. „Aber insgesamt kommen wir doch ziemlich gut zurecht.“ Von der „Politik der offenen Arme“ spricht man in der Türkei – überall im Land hängen Plakate der Regierung, die dazu aufrufen, den „muslimischen Brüdern und Schwestern“ zu helfen. Es geht wohl nicht nur um Nächstenliebe, mit derlei Appellen bedient die islamische Regierungspartei AKP auch ihre gläubige Wählerschaft.

Einst verband Präsident Erdogan und den syrischen Diktator Assad sogar eine Männerfreundschaft, aber das ist vorbei. Als der Bürgerkrieg anfing und für türkische Unternehmen in Anatolien wichtige Wirtschaftswege in Syrien wegbrachen, musste sich die Türkei außenpolitisch entscheiden – das hat sie, und zwar gegen Assad. „Die türkische Regierung bemüht sich auf aufrichtige Weise, den entkommenen Syrern zu helfen“, lobt auch Hisham Marwah, Mitglied der syrischen Exilopposition in Istanbul.

Doch nicht alle Türken sind mit der Politik der offenen Arme zufrieden: Weil die Syrer um Arbeitsplätze konkurrieren und mancherorts die Mietpreise hochtreiben, schlägt den Flüchtlingen gelegentlich Ablehnung oder sogar Wut entgegen. Nach einer Untersuchung der Hacettepe-Universität in Ankara glauben 56 Prozent der Türken, dass die Syrer ihnen die Arbeit wegnehmen. Im November wurde syrischen Flüchtlingen im Badeort Antalya das Bleiberecht verwehrt. Menschen ohne gültige Papiere sollten die Küstenstadt innerhalb von zwei Wochen verlassen.

Zudem kämpft das Land mit hohen Lebenshaltungskosten und dem Verfall der heimischen Währung. Dennoch hat die Türkei laut Präsident Erdogan bislang für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge umgerechnet fünf Milliarden Euro aufgewendet. „Die westlichen Staaten, die nach eigenen Angaben viel reicher sind als wir, überlassen die Flüchtlinge dem Tod im Meer“, kritisierte Erdogan und fordert von den europäischen Ländern mehr Unterstützung für die Bürgerkriegsflüchtlinge.

Dass die Türkei in Zukunft nicht unbedingt bereit sein wird, noch wesentlich mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen, zeigte sich bei einem Vorfall in der Nähe der syrischen Grenzstadt Tall Abyad. Als dort Mitte Juni Tausende Syrer über den Grenzzaun in die Türkei wollten, wurden sie von türkischen Soldaten mit Wasserwerfern und Warnschüssen zunächst daran gehindert. Möglicherweise ist selbst die Gastfreundschaft der türkischen Regierung irgendwann erschöpft.

(*Hoşgeldiniz ist Türkisch und heißt: Willkommen. Gesprochen: Hosch- Gell-di-nisss)