Nach den Attacken von Paris riefen Aktivisten der Anonymous-Bewegung unter Hashtags wie #OPParis schnell zum Gegenangriff. Die Hacker kündigten per Youtube-Video auch an, Mitglieder des IS, auch Islamischer Staat oder Daesh genannt, zu „neutralisieren“.


Bei den Hacks stellt sich vor allem eine Frage: Wieso löscht Twitter die Accounts nicht von sich aus, wenn sie auch Anonymous schon bekannt sind?Damit erreichte Anonymous ein riesiges Medienecho, was wohl auch an der krassen Rhetorik der Gruppe liegt. Was der von ihr beschworene „Cyber-Krieg" bedeutet, der freilich nur wenig mit echtem Krieg zu tun hat, zeigt sich derzeit vor allem auf Twitter: Wie bereits nach den Attacken auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar dieses Jahres veranlassen die Aktivisten derzeit anscheinend die Löschung von mehreren Tausend Twitter-Accounts, denen sie eine Verbindung zum IS nachsagen. Rund 100.000 Konten sollen sie und ihre Ableger-Gruppen seit Januar bereits enttarnt und gemeldet haben. Damit bekämpfen sie den IS an einer empfindlichen Stelle: Die Präsenz in sozialen Medien spielt eine zentrale Rolle bei der Anwerbung neuer Kämpfer für die Fundamentalisten in Syrien und dem Irak.

Es spricht viel dafür, dass Twitter nicht untätig ist. Im April löschte das Unternehmen nach eigenen Angaben 10.000 Accounts mit Bezug zum IS wegen Verletzung der Nutzungsbedingungen. Das Problem dabei ist jedoch, dass die Löschungen oft nur zu Katz- und Maus-Spielen führen. Viele Nutzer eröffnen ihre Accounts innerhalb weniger Tage unter anderen Namen, werden von ihren ehemaligen Followern wiedergefunden und setzen ihre Propaganda fort.

Was nutzt die Lahmlegung der Seiten?

Die Social-Media-Aktivitäten von IS-Sympathisanten und -Mitgliedern sind vermutlich auch ziemlich interessant für Geheimdienste aus verschiedenen Ländern. Sie können über nicht direkt sichtbare, aber trotzdem bei Tweets mitgelieferte Daten über Standorte und Zeitzonen gut analysieren, welche Akteure miteinander kommunizieren und wo sie sich befinden – sofern die Urheber der Tweets keine Verschlüsselungstechniken benutzen.

Twitter zeigte sich bislang nur mäßig motiviert, die Inhalte auf seiner Plattform konsequent zu zensieren. Die US-Firma hat eine recht liberale Vorstellung davon, was in ihrem Kurznachrichtendienst erlaubt sein sollte und was nicht. In den Twitter-Regeln heißt es immerhin: „Du darfst keine Gewaltandrohungen gegen andere veröffentlichen oder posten oder Gewalt gegen andere fördern.“ Eine automatisierte Löschung etwa von Tweets, die einen bestimmten Inhalt haben, hat das Unternehmen jedoch noch nicht ins Auge gefasst. Facebook steht wegen eines ähnlich lockeren Ansatzes in Deutschland stark in der Kritik, weil das Portal nach Ansicht vieler Politiker, etwa des Justizministers Heiko Maas, zu wenig gegen rassistische Kommentare auf seinen Seiten unternimmt.

Um Inhalte zu löschen, die zum Beispiel gewalttätige Drohungen enthalten, setzt Twitter auf die Mitarbeit anderer Nutzer. Viel spricht dafür, dass die Daten über zwielichtige Twitter-Accounts, die derzeit von Anonymous-Aktivisten verbreitet werden, von Twitter gesichtet werden, um Konten auf der Plattform zu löschen. Das ist allerdings nur ein Tagessieg – ohne eine konsequente Strategie kann die IS-Propaganda in den sozialen Medien nicht dauerhaft unterbunden werden.

Kontext: Wer ist Anonymous?

Anonymous ist eine Internet-Bewegung, die aus sogenannten Hacktivisten besteht – also Hackern, die sich als Aktivisten für Informationsfreiheit verstehen. Anonymous hat keine klare Struktur, sodass in der Regel nicht nachvollziehbar ist, wer hinter den Aktionen der Bewegung steht. In der Vergangenheit ist Anonymous, deren Erkennungszeichen die Guy Fawkes-Maske ist, etwa durch DDoS-Attacken (Englisch für „Distributed Denial of Service“, also Dienstblockaden, die durch eine Vielzahl verteilter Rechner verursacht wurden) aufgefallen, mit denen Aktivisten die Webseiten von diktatorischen Regimen überlasteten und damit lahmlegten. Andere Aktionen unterstützten etwa Occupy Wall Street oder zogen gegen Scientology zu Felde.

Derzeit kursiert im Internet ein 8-Punkte-Plan gegen den IS, der im Namen von Anonymous dafür wirbt, nicht nur IS-Internetseiten abzuschalten, sondern die Organisation auszuforschen, um sie effektiver zu bekämpfen. Ein Teil der Aktivitäten richtet sich dabei auch gegen das sogenannte „Cyber-Kalifat“, eine Hackergruppe mit Sympathien für den IS.

Arne Semsrott ist Redakteur bei fluter.de. Außerdem arbeitet er für die Open Knowledge Foundation Deutschland und betreut dort das Portal zur Informationsfreiheit FragDenStaat.de