Georg Vanberg, wie finden Sie Ihre Verfassung?

Für mich hat sie wie für alle Amerikaner eine große Bedeutung. Kein Politiker würde sich offen hinstellen, und sagen: Ich will dies oder das ändern. Die Verfassung hat genauso wie zum Beispiel die Flagge
Kultstatus.

Woran liegt das?

Zum einen daran, dass es sie schon seit 220 Jahren gibt. Und dann ist da natürlich ihre Geschichte: Nach Revolution und Unabhängigkeit schreiben sich die Bürger eines Landes zum ersten Mal ihre eigene Verfassung, unter der sie leben wollen.

Worin liegt das Erfolgsrezept dieser Verfassung?

Wer sie aufschlägt, stellt zunächst einmal fest, dass sie sehr kurz ist. Der erste Teil handelt vom Kongress, der zweite vom Präsidenten und der dritte vom Obersten Gericht. Die Verfassung legt ganz genau fest, wer für was wann zuständig ist und wie ein Gesetz zustande kommt. Kurz nach ihrer Verabschiedung wurde 1791 allerdings ein Grundrechtekatalog an die Verfassung angehängt, die Bill of Rights. Das waren die ersten zehn Zusätze am Ende der Verfassung, Amendments. Aber wie gesagt, der
eigentliche Text der Verfassung ist ein Bauplan für ein funktionierendes politisches System.

Es gibt also Spielraum. Wer interpretiert die Verfassung?

Das macht der Supreme Court. Durch seine Rechtsprechung können die Regeln der Verfassung dem politischen Alltag eine völlig neue Richtung geben.

Der Supreme Court macht also Politik?

In gewissem Sinne. Auch in Deutschland gibt es das Bundesverfassungsgericht, das immer wieder Zweifelsfälle klären muss. Zugegeben, die Rolle des Supreme Courts ist noch bedeutender, aber es ist gerade die Flexibilität der Verfassung, die der Grund ist, dass es die Verfassung nach über 200 Jahren immer noch gibt. Die Welt steht nicht still und gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen eine Verfassung. Die amerikanische Verfassung geht damit offen und produktiv um.

Aber könnte die Verfassung nicht auch gegen ihren Willen interpretiert und missbraucht werden?

Erst einmal muss man sagen, dass die Gewaltenteilung in der Verfassung sehr genau geregelt ist. Das berühmte System der Checks and Balances, also der gegenseitigen Kontrolle von Präsident, Kongress und Oberstem Gericht, macht es enorm schwierig, politische Entscheidungen durchzubringen. In Europa wird gerne so getan, als hätte der US-Präsident die absolute Macht, dabei muss er ständig nach Kompromissen suchen.

Die Verfassung war Vorbild für viele Länder – zum Beispiel für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nach der Französischen Revolution von 1789 ...

... auch für viele Verfassungen in Latein amerika wie Mexiko, wo der Text der Verfassung große Ähnlichkeit hat.

Mexiko hat nicht unbedingt immer eine glückliche Geschichte erlebt.

Das zeigt, dass eine Verfassung nur eine Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist. Sie wird erst durch das politische Umfeld und die politische Kultur lebendig. Der berühmte französische Schriftsteller Alexis de Tocqueville reiste nach der Unabhängigkeit durch die USA und schrieb, dass die Bürger unter der amerikanischen Verfassung fast alles tun könnten, was sie wollen, aber dass sie es aus moralischen Gründen oder vielleicht auch aus Mangel an Vorstellungsvermögen nicht tun würden – und so die Verfassung funktioniert. Was er damit meinte: Wenn Leute darauf aus sind, andere Leute zu unterdrücken, ist das in demokratischen Verfassungen immer möglich. Keine Verfassung der Welt kann davor schützen. Man braucht also das, was wir in den USA Commitment to the Rules nennen: die Einsicht und Bereitschaft der Menschen, sich an die Regeln zu halten. 

Georg Vanberg ist Professor der Politikwissenschaften an der renommierten University of North Carolina at Chapel Hill, der ältesten öffentlichen Universität der USA