Fünfzehn Jahre ist es her, da sagte der damalige US-Präsident Bill Clinton diesen Satz: Dass jeder Versuch, das Internet in China zu kontrollieren, so erfolgversprechend sei wie der, „einen Pudding an die Wand zu nageln“.

Dezentral. Unübersichtlich. Grenzenlos. Eine Gefahr für autoritäre Regime, die oppositionelle Positionen unterdrücken wollen – so sahen zu Anfang des Jahrtausends viele das Netz. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist. Dass es Machthabern auf der ganzen Welt sehr wohl gelingt, unliebsame Kommunikation über das Internet zu unterdrücken – vom schrittweisen Aufbau eines „Halal Internet“ – einer Art riesigem Intranet – im Iran über die Twitter-Blockaden in der Türkei bis hin zu Repressionen und Verhaftungen von Bloggern von Russland bis Saudi-Arabien.

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Kein Durchblick: Chinas Internet-Zensurmaßnahmen schotten das Land vom Rest der Welt ab (Foto: Michael Wolf / laif)

Kein Durchblick: Chinas Internet-Zensurmaßnahmen schotten das Land vom Rest der Welt ab

(Foto: Michael Wolf / laif)

Doch kein Land weltweit betreibt die Internetzensur so aufwändig und ausgefeilt wie das Land, das Bill Clinton bereits vor 15 Jahren ins Auge gefasst hatte. „Ich würde sagen, dass aufgrund der Art und Weise, wie die chinesische Regierung sich mit Technologie auseinandersetzt, der Zensuranspruch sicherlich im internationalen Vergleich ein besonderer ist“, sagt Silke Ballweg, Pressereferentin von „Reporter ohne Grenzen“ (ROG). Und deshalb befassen sich längst auch die Experten der Nichtregierungsorganisation eingehend mit der Technik.

China steuert die Informationen, die in das Land hineinfließen. So blockieren die Zensurbehörden immer wieder ganze Nachrichtenseiten – etwa die der Nachrichtenagentur Reuters oder der „New York Times“. Auch die Seiten von Facebook, Twitter und anderen US-Diensten wurden bereits gesperrt. Zeitweise war selbst Wikipedia nicht aufrufbar. Bestimmte Suchbegriffe, etwa der Name des Friedensnobelpreisträgers und Menschenrechtsaktivisten Liu Xiaobo oder solche zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, sind blockiert. Im Westen ist dieses Bündel an Maßnahmen auch als „Great Firewall“ bekannt – der Begriff ist eine ironische Anspielung auf die Chinesische Mauer.

Nach Einschätzung der Techniker von Reporter ohne Grenzen stecken dahinter oft keine technischen Meisterwerke. Teils wird sozusagen das Telefonbuch des Internets kaputt gemacht: Gemeint ist das Domain Name System, das die Namen von Internetseiten wie etwa fluter.de in eine numerische IP-Adresse übersetzt. Das funktioniert dann nicht mehr, wird gefiltert oder leitet Anfragen auf andere Seiten um – etwa auf eine Seite, auf der „Webseite nicht verfügbar“ steht. Um Traffic mit unerwünschten Schlüsselwörtern herauszufiltern, setzt China Beobachtern zufolge die in der westlichen Fachöffentlichkeit spätestens seit dem NSA-Skandal umstrittene Deep Packet Inspection ein – das detaillierte Inspizieren von ausgesendeten Datenpaketen.

Soll unterbunden werden, dass ein Austausch übers Netz stattfindet, werden unter anderem die TCP-Verbindungen zwischen den Kommunikationspartnern unterbrochen. Häufig zum Einsatz kommen auch sogenannte Man-in-the-Middle-Attacken, bei denen man sich unbemerkt zwischen zwei Kommunizierende schaltet und ihre Unterhaltung kontrolliert. Viele dieser Maßnahmen sind keine originär chinesische Erfindung und werden auch in anderen Ländern zur Zensur des Internets genutzt. Bekannteste Beispiele dafür sind die Türkei mit ihrer temporären Blockade von YouTube und Twitter oder Ägypten während des Arabischen Frühlings.

Eine IT-Industrie aufbauen, die den eigenen politischen Zielen dient

Einige dieser Zensurverfahren lassen sich einfach austricksen – manche schon, indem man einfach einen Proxyserver nutzt, der der aufgerufenen Website vorgaukelt, dass man von einem anderen Land aus zuzugreifen versucht. Mit dem Anonymisierungstool TOR, das die Anfragen über verschiedene Knotenpunkte umleitet und so Zensur abzuwehren versucht, liefern sich chinesische Zensurbehörden nach Aussagen des TOR-Programmierers Roger Dingledine ein technisches Wettrüsten. Derzeit funktioniert TOR in China nur in einer speziellen Variante. Vor allem aber behalfen sich viele chinesische Internetnutzer mit VPN-Diensten (Virtual Private Network) gegen die Zensur. Über sogenannte VPN-Tunnel können Nutzer verschlüsselte Verbindungen zu einem Server im Ausland herstellen – und dieser greift dann über eine anonyme IP-Adresse auf die gewünschte Seite zu.

Doch auch dieses Schlupfloch stopfen chinesische Internetzensoren nun. Seit Anfang 2015, nachdem Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping das Thema Cybersecurity zum Schwerpunkt der Regierungsarbeit gemacht hat, blockiert China nun auch diese VPN-Verbindungen: Die Server diverser größerer Anbieter, etwa Astrill oder Golden Frog, sind von China aus nicht mehr erreichbar. Ein Schritt, der Charlie Smith, wie sich einer der Aktivisten hinter dem Antizensur-Projekt GreatFire.org nennt, sehr besorgt. „Wenn sie mehr Nutzer überzeugen, chinesische Dienste zu nutzen – die sie zensieren und einfacher ausspähen können – ,dann haben sie einen weiteren Schritt in Richtung Cybersouveränität getan.“

Was der Mann mit dem Pseudonym Smith hier anspricht: Schon seit Jahren fördert China massiv den Aufbau einer Art Chinanet. „Längerfristig ist das Ziel, sich technisch von westlichen Firmen unabhängig zu machen“, sagt Silke Ballweg von Reporter ohne Grenzen. „Es geht darum, ein eigenes Ökosystem aufzubauen.“ Produzenten für landeseigene Hard- und Software würden gefördert. Ausländischen Firmen werde es zunehmend schwer gemacht, in China zu operieren – bis hin zu der Forderung, ihren Quellcode offenzulegen und chinesische Verschlüsselungsalgorithmen zu nutzen. Und dass Dienste wie Facebook und Twitter komplett zensiert sind, könne auch als eine Art Förderprogramm für die chinesischen Klone Renren und Sina Weibo gesehen werden.

Der Gedanke dahinter liegt auf der Hand: Inländische Firmen sind leichter den eigenen Regeln zu unterwerfen – Auskunftspflichten etwa. Oder der Anforderung, pro 50.000 Nutzer zwei bis drei firmeninterne Zensoren zu beschäftigen, die die Inhalte der eigenen Seite sichten – zusätzliches Personal für Internetkontrolle, neben schätzungsweise 50.000 „Cybercops“ und 300.000 ebenfalls mit derartigen Aufgaben betrauten Parteifunktionären. Preist man diesen und andere Wettbewerbsnachteile mit ein, offenbart sich, was es für ein Kunststück ist, an dem sich die chinesische Regierung versucht: eine IT-Industrie aufzubauen, die sowohl ihren politischen Zielen dientals auch kommerziell erfolgreich sein muss.

Ausländische Software als potenzielle Gefährdung der nationalen Sicherheit

Ausländische Software betrachtet China unterdessen als potenzielle Gefährdung für die nationale Sicherheit, heißt es in einem Bericht des Mercator Institute for China Studies vom November 2014. Interessant, vor diesem Hintergrund, dass die US-Firma Cisco an den Anfängen der „Great Firewall“ mitgebaut hat. Empanzipationsanstrengungen in diesem Umfang sind sicherlich ein Sonderfall – viele andere Länder wählen exakt den umgekehrten Weg und kaufen Spionagesoftware aus dem Westen ein, um ihre Internetopposition auszuspähen, zu überwachen und zu unterdrücken.

Darüber hinaus filtern Chinas Zensoren auch inländische Inhalte – und zwar nach Einschätzung des US-Politologen Gary King als „extensivste Anstrengung zur selektiven Zensur von menschlichen Ausdrücken, die jemals umgesetzt wurde“, wie er 2013 dem US-Magazin „The Atlantic“ sagte. King fand in Studien heraus, dass Chinas Zensurinfrastruktur nicht nur unglaublich effizient arbeiten würde, sie fokussiere sich auch noch darauf, Einträge zu ganz konkreten Graswurzel-Initiativen wie Demonstrationen sofort zu eliminieren, während allgemeine Kritik gegenüber der Regierung etwas größere Chancen hätte, unzensiert zu bleiben.

Als bemerkenswert gilt vielen der Angriff aus China auf zwei Antizensur-Seiten auf der Entwicklerplattform Github im April. Neu daran ist zum einen, dass China damit nicht nur digitale Informationen von außen abblockt oder innerhalb von China zensiert, sondern dass in diesem Fall ein unliebsamer, aber außerhalb Chinas gehosteter Inhalt gezielt attackiert wurde.

Ein weiterer, aber nicht zu unterschätzender Faktor der chinesischen Internetzensur funktioniert vollkommen analog. „Sehr verbreitet sind auch Einschüchterungen seitens der Behörden“, sagt Silke Ballweg von Reporter ohne Grenzen. „Leute, die kritisch schreiben, werden auf ein Gespräch zum Tee eingeladen und dabei unter Druck gesetzt.“ In ihren Augen besonders gefährlich: „Neben den technischen Maßnahmen muss man feststellen: Selbstzensur ist sicherlich die wirksamste Form von Zensur, die in China stattfindet.“ Darüber hinaus werde seitens der Behörden versucht, über soziale Netzwerke die öffentliche Meinung gezielt zu beeinflussen.

Und so hat der ehemalige US-Präsident Bill Clinton mit seiner Pudding-Metapher ordentlich daneben gelegen. China macht wie kaum ein anderes Land der Erde vor, wie ambitioniert das Internet zensier- und kontrollierbar ist. Doch Clinton ist nicht der Einzige, der sich täuschte. Laut einem Bericht des Magazins „Economist“ stand in der ersten E-Mail, die jemals von China aus gesendet wurde, am 14. September 1987: „Über die chinesische Mauer hinweg erreichen wir jede Ecke der Erde.“ Noch eine Vision, die sich nicht bewahrheitet hat im digitalen Käfig, den die Regierung Chinas seiner Bevölkerung gebaut hat.

Meike Laaff ist froh, dass ihr VPN-Tunnel gut funktioniert. Noch besser wäre es natürlich, solche Bemühungen zur digitalen Selbstverteidigung wären gar nicht erst notwendig.