Lisa Gillwald will Lehrerin werden und wartet auf ihren Referendariatsplatz. Ihren Mitgliedsantrag für die Lehrergewerkschaft hat sie aber schon lange vorher unterschrieben. Für sie war es ein Beitritt aus Überzeugung. Und die ist durch ihr Engagement in der Gewerkschaft nur noch größer geworden. In den vergangenen Jahren war sie viel in den Berufsschulen Mecklenburg-Vorpommerns unterwegs. Die Mission: junge Azubis über ihre Rechte aufklären. Das habe ihr erst so richtig die Augen geöffnet, sagt sie.

Da saß zum Beispiel die angehende Friseurin, die von 116 Euro Ausbildungsvergütung im Monat leben sollte. Da war der Kochlehrling, der im Berufsschulunterricht einschlief, weil sein Chef ihm Extraschichten bis tief in die Nacht aufgedrückt hatte. Da war der junge Elektriker, der für seinen Betrieb auf eigene Kosten zum Kunden fahren musste. „Das sind unglaublich prekäre Zustände“, sagt Lisa Gillwald. „Und das zeigt, wie wichtig es ist, dass Beschäftigte sich organisieren und für ihre Rechte kämpfen.“

Als junge Gewerkschafterin ist Lisa Gillwald eine statistische Ausnahme

Als junge Gewerkschafterin ist Lisa Gillwald eine statistische Ausnahme. Das durchschnittliche Gewerkschaftsmitglied ist männlich, lebt im Westen, arbeitet in einem großen Industriebetrieb. Und hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ergrauendes Haupthaar. Nur 12 Prozent der 18- bis 30-jährigen abhängig Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Das hatte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft mit den Daten einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage berechnet.  Unter den Arbeitnehmern über 51 Jahre waren es dagegen im Jahr 2015 knapp 26 Prozent. Warum bleiben die meisten Jungen fern?

Früher kamen junge Menschen oft so wie der 25-jährige Sebastian Burdack zur Gewerkschaft. Vor fünf Jahren hat Burdack eine Ausbildung als Chemielaborant bei Evonik in Marl angefangen. Zeitgleich trat er der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, kurz IG BCE, bei. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit in seinem Betrieb, sagt Burdack. Evonik ist ein großes Industrieunternehmen, ein Betriebsrat gehört dazu, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite respektieren einander – so ist seine Wahrnehmung. „Ich persönlich sehe deswegen keinerlei Nachteil darin, Gewerkschaftsmitglied zu sein“, sagt er.

Für viele von Burdacks Altersgenossen ist das heute anders, vor allem wenn sie in kleinen Betrieben arbeiten. Lehramtsanwärterin Lisa Gillwald hat bei ihren Touren durch die Berufsschulen von vielen Azubis gehört, dass sie sich schlicht nicht trauen, allzu laut auf ihre Rechte zu pochen bei den Friseursalons und Handwerksmeistern, die keinen Betriebsrat haben, bei denen auch bislang kaum ein Mitarbeiter in der Gewerkschaft war – geschweige denn so etwas wie einen Streik gewagt hätte.

Hast du Angst, bei der Arbeit deine Rechte einzufordern?

Nein, ich fordere immer offen ein, was mir zusteht
44% (82 Stimmen)
Ein bisschen schon, aber manchmal sage ich schon was
38% (72 Stimmen)
Ja, damit würde ich mir nur Nachteile einhandeln
18% (34 Stimmen)
188 haben ihre Stimme bereits abgegeben

Sebastian Burdack hingegen erlebt noch das gängige Prozedere mit, nach dem Gewerkschaften in Deutschland jahrzehntelang die Arbeitsbedingungen mitbestimmt haben: Ein halbes Jahr nach seinem Ausbildungsstart wurde er in die Jugendvertretung des Marler Werks gewählt, von dort rückte er als Vertreter des Nachwuchses auf in die Tarifkommission, die mit dem Arbeitgeberverband über die Löhne der 550.000 Beschäftigten der Chemieindustrie verhandelt.

Das läuft dann so ab: Zweieinhalb Tage lang sitzen beide Delegationen in einem schmucklosen Tagungshotel zusammen, 60 Gewerkschaftsdelegierte, 60 Arbeitgebervertreter. Eine kleine Gruppe der Verhandlungsführer setzt sich mit den Spitzenvertretern der Arbeitgeberseite zusammen, um nach einer Weile mit den neuen Angeboten zu ihrer Delegation zurückzukommen: Das schlagen die Arbeitgeber vor, was kann man akzeptieren, was geht zu weit?

Im Juni 2016 etwa wollten Burdack und viele andere Vertreter der Jüngeren durchsetzen, dass die Chemieunternehmen weiterhin eine feste Zahl an Ausbildungsplätzen zusagen. Doch am ersten Verhandlungstag schlugen die Arbeitgebervertreter eine weichere Formulierung vor. Im Besprechungsraum der Gewerkschaftsseite wurden Textvorschläge im Änderungsmodus an die Wand projiziert.
„Da muss man schon mal auf den demografischen Wandel und die anstehenden Altersabgänge der Babyboomer-Generation aufmerksam machen“, sagt Sebastian Burdack. Die Delegierten bestanden zwar auf der Zahl von 9.200 Ausbildungsplätzen, am Ende fand sich aber eine weichere Formulierung im Tarifvertrag. Ein Kompromiss.

Selbst bei Erfolgen haben die Gewerkschaften heute ein Problem

Doch selbst bei Erfolgen haben die Gewerkschaften heute ein grundsätzliches Problem: Was sie aushandeln, kommt oft auch Beschäftigten zugute, die gar keine Mitglieder sind und daher auch nicht in die Gewerkschaftskasse einzahlen. Viele Gewerkschaften versuchen daher, mit Zusatzleistungen Mitglieder zu gewinnen, etwa mit einem Rechtsschutz.

Dass Gewerkschaften schwächer geworden sind, hat aber auch mit dem Strukturwandel in der Wirtschaft zu tun. Früher waren wesentlich mehr Beschäftigte so wie Sebastian Burdack in großen Industrieunternehmen tätig, in denen die Gewerkschaften fest verankert waren.
Heute arbeiten viel mehr Menschen in Dienstleistungsberufen und häufiger als früher in Teilzeit oder befristet. Die Jobs werden spezieller, die Erwerbsbiografien brüchig, der eine Beruf trägt einen nicht mehr unbedingt durch ein ganzes Leben. Doch gerade in den flexibelsten, hyperindividuellsten und ultrakurzfristigsten Bereichen der neuen Arbeitswelt beginnen Arbeitnehmer, sich neu zu organisieren.

Georgia Palmer hat schon viele Nebenjobs gemacht, gekellnert, Nachhilfe gegeben, Telefonbefragungen durchgeführt. Seit 2015 fährt sie neben dem Philosophiestudium bei Foodora Essen aus, zwölf Stunden in der Woche radelt sie mit dem magentafarbenen Würfel auf dem Rücken durch die Straßen Berlins. „Den Job selber finde ich super“, sagt die 24-Jährige. „Im Studium sitzt man viel am Schreibtisch. Radfahren ist der perfekte Ausgleich.“

Nicht so gut sind die Bedingungen. Das Lieferdienst-Start-up Foodora ist ein typisches Beispiel für die sogenannte Gig-Economy, die Avantgarde der neuen digitalen Wirtschaft: Der eigentliche Auftraggeber der Fahrer ist eine App, die die Mitarbeiter zu den Restaurants führt und von dort zu den Kunden, die das Essen bestellt haben. Die Fluktuation unter den Mitarbeitern ist hoch, für viele ist der Job eher ein Zuverdienst auf Zeit. Es ist eine Einzelkämpfertätigkeit: Gemeinsame Schichten, ein fester Arbeitsplatz, ein Kollegium – all das gibt es nicht. Eher sucht man sich den nächsten Job, als dass man sich zum Streik zusammenfindet. Oder?

Ein linker Splitterverband stemmt sich gegen die hippe Gig-Economy

Der Kragen geplatzt ist Georgia, als ein Kunde sie plötzlich mit Namen ansprach. Danke für die Lieferung, Georgia. Sie war perplex: Woher weiß der, wie ich heiße? Die Erklärung schickte Foodora ein paar Tage später per Rundmail: Man übermittle den Kunden nun die Vornamen der Fahrer, um den Dienst persönlicher zu machen. Schnell erfuhr Georgia: Ich bin nicht die Einzige, die darüber ziemlich sauer ist.
Denn ganz so abgekapselt voneinander sind die Fahrer nicht. Sie laufen einander über den Weg, wenn sie im selben Restaurant Essenslieferungen abholen müssen. In Berlin-Friedrichshain, Georgias Lieferbezirk, hatten sie eine WhatsApp-Gruppe gegründet, durch eine der Zufallsbegegnungen fand Georgia hinein. Die Organisation folgt dem Schneeballprinzip, und sie ist so digital wie die Auftragsapp auf dem Handy der Fahrer.

Über die Namensweitergabe wurde viel diskutiert in der Gruppe, aber nicht nur darüber. Einige fragten bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Unterstützung suchten die Fahrer aber schließlich bei der Freien Arbeiterinnen und Arbeiter-Union, einer anarchistischen Graswurzel-Gewerkschaft, sie erschien ihnen wendiger als der Arbeitnehmervertretungsriese mit den zwei Millionen Mitgliedern aus tausend Berufen. Ein linker Splitterverband stemmt sich nun also gegen die hippe Gig-Economy.

Georgia half, eine Demonstration zu organisieren, sie studierte die Geschäftszahlen von Foodora, kam schließlich mit zwei anderen Fahrern im August zu einem ersten Gespräch mit Firmenvertretern in die Foodora-Zentrale. Das Lieferunternehmen selbst äußert sich zu den Verhandlungen allgemein. Da man sich ständig für das Wohl der Fahrer einsetze, verschließe man sich dem Gespräch nicht, teilt ein Unternehmenssprecher mit – egal ob mit neuer oder klassischer Arbeitnehmervertretung. Georgia sagt: „Dass sie überhaupt mit uns reden, ist schon ein Riesenerfolg.“

Man könnte auch sagen: Es ist ziemlich viel Aufwand für einen 450-Euro-Job, den Georgia wie die meisten anderen ohnehin nicht für alle Ewigkeit machen möchte. Aber sie sieht es anders, als eine Art Vorsorge für die Zukunft. „Die Gig-Economy untergräbt viele arbeitsrechtliche Standards, und es kann gut sein, dass wir alle bald häufiger nach dem Modell arbeiten“, sagt sie. „Da ist es gut, wenn man von Anfang an dagegenhält.“

Titelbild: Thomas Meyer/OSTKREUZ