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Paula Bulling: „Im Land der Frühaufsteher“; Avant, Berlin 2012, 125 Seiten, 17,95 Euro (Foto: Avant-Verlag)

Paula Bulling: „Im Land der Frühaufsteher“; Avant, Berlin 2012, 125 Seiten, 17,95 Euro

(Foto: Avant-Verlag)

„Land der Frühaufsteher“ – so frisch und offen bewirbt sich Sachsen-Anhalt in Deutschland. Für Flüchtlinge sieht es trister aus, stellt die Illustratorin Paula Bulling fest. Schon während ihres Designstudiums in Halle an der Saale besuchte sie mehrere Asylbewerberheime, in Bernburg, Halberstadt, Katzhütte und Möhlau. Alles trostlose Orte, eingerichtet in ehemaligen Kasernen und Pionierheimen mit schlechter hygienischer Versorgung, in denen die Flüchtlinge oft viele Jahre ausharren müssen. Direkt im Anschluss, 2012, veröffentlichte sie ihre Beobachtungen in Comicform. Sie wählt einen rauen, skizzenartigen Stil, der den unwirtlichen Alltag in den Heimen wiedergibt. Bulling bleibt bewusst subjektiv, tritt sogar selbst in ihren Bildern auf. So thematisiert sie auch ihre Schwierigkeiten damit, als weiße Deutsche die Geschichte der größtenteils afrikanischen Flüchtlinge zu erzählen.

Die Recherchen zu seinem Comic „Unsichtbare Hände“ führten den Finnen Ville Tietäväinen dorthin, wo Afrika und Europa sich am nächsten kommen: an die Straße von Gibraltar. Hier sucht sein fiktiver Protagonist, der etwas naive Schneider Rashid, ein besseres Leben und flüchtet mit Hilfe von Schleppern aus einem marokkanischen Armenviertel nach Spanien. Dort muss er, wie so viele andere Papierlose, im „Plastikmeer“ schuften, den sich kilometerweit ausdehnenden Treibhausanlagen, wo das Obst und Gemüse für halb Europa produziert wird. Ausbeutung, Erniedrigung und die Sehnsucht nach seiner Familie setzen Rashid zu. Mit ausdrucksstarken Zeichnungen und düster-erdigen Farben zeigt Tietäväinen die unmenschlichen Dimensionen einer Flüchtlingsbiografie, vermittelt aber auch viele Fakten, etwa über die ökonomischen Zusammenhänge der Arbeit in Südspanien und wer davon profitiert.

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Ville Tietäväinen: „Unsichtbare Hände“; Avant, Berlin 2014, Übersetzung: Alexandra Stang, 216 Seiten, 34,95 Euro (Foto: Avant-Verlag)

Ville Tietäväinen: „Unsichtbare Hände“; Avant, Berlin 2014, Übersetzung: Alexandra Stang, 216 Seiten, 34,95 Euro

(Foto: Avant-Verlag)

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Ulli Lust: „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“; Avant, Berlin 2009, 464 Seiten, 29,95 Euro (Foto: Avant-Verlag)

Ulli Lust: „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“; Avant, Berlin 2009, 464 Seiten, 29,95 Euro

(Foto: Avant-Verlag)

Wer in einer Gesellschaft aufwächst, in der Frieden, Demokratie und Wohlstand herrschen, hat wenige Fluchtgründe. Da kann am ehesten wohl die gefühlte oder reale Unterdrückung im Elternhaus zu Ausreißerträumen verleiten. Ulli, gerade 17 geworden, macht das wirklich: Mit einer Punk-Freundin und ohne großen Plan fährt sie von Wien aus Richtung Italien, 1984, also in jener smartphonelosen Zeit, als man auf Reisen noch wirklich auf sich allein gestellt war. Doch der Ausflug in die Freiheit entwickelt sich zum Höllentrip, was vor allem am Machismo und den sexuellen Übergriffen fremder Männer liegt. Schließlich wird Ulli sogar vergewaltigt.Auch Drogen und die Mafia spielen eine Rolle, und bevor jetzt jemand sagt, das sei ja alles etwas sehr dick aufgetragen: Es sind alles autobiografische Ereignisse, die Ulli Lust 20 Jahre später in ihrer zu Recht mit vielen Preisen ausgezeichneten Geschichte „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ verarbeitet hat. Auf 464 Seiten verdichtet sie diese außergewöhnlichen zwei Monate ihres Lebens mit einer hohen Intensität, mit schnellem, hartem Strich. So wütend, rough und intensiv, wie sich das Leben einer rebellischen 17-Jährigen eben darstellt.

Mit 145 Metern Länge war der Tunnel 57 der längste unter den Dutzenden Fluchttunneln, durch die zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung Menschen von Ost- nach West-Berlin zu fliehen versuchten. Susanne Buddenberg und Thomas Henseler halten sich in „Tunnel 57“ akribisch an die historischen Ereignisse aus dem Jahr 1964 und gehen erzählerisch sehr strukturiert vor. Die Bilder illustrieren hier die Textebene und reichern sie in seltenen Fällen an, etwa in Form von Übersichtskarten des Tunnelverlaufs. Die Zeichnungen an sich jedoch bieder und statisch, die wenigen Dialoge sind eher Mittel zum Zweck als von dramaturgischer Eigenmotivation geleitet. Kein Wunder: Die Geschichte entstand 2012 für eine Ausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung, und im Buch „Tunnel 57“ nimmt der Comicteil ohnehin nur die ersten 30 Seiten ein. Danach folgen Interviews, Sachtexte, Zeitzeugenberichte und Materialien für den Unterricht.

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Susanne Buddenberg/Thomas Henseler: „Tunnel 57“; Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 112 Seiten, 10 Euro (Foto: Ch. Links Verlag)

Susanne Buddenberg/Thomas Henseler: „Tunnel 57“; Ch. Links Verlag, Berlin 2013, 112 Seiten, 10 Euro

(Foto: Ch. Links Verlag)

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Nicolas Brachet/Olivier Jouvray: „Fluchttunnel nach West-Berlin“; Avant, Berlin 2014, 56 Seiten. 19,95 Euro (Foto: Avant-Verlag)

Nicolas Brachet/Olivier Jouvray: „Fluchttunnel nach West-Berlin“; Avant, Berlin 2014, 56 Seiten. 19,95 Euro

(Foto: Avant-Verlag)

Auch die Franzosen Olivier Jouvray und Nicolas Brachet ließen sich vom Tunnel 57 inspirieren – wählten aber einen grundverschiedenen künstlerischen Ansatz. So interpretieren sie die Ereignisse deutlich freier, verfremden Namen und erfinden noch eine Liebesgeschichte dazu. Erzählt ist ihre Geschichte aus Sicht der West-Berliner Studenten, die den Tunnel graben. Sie setzt ein, noch bevor es überhaupt die Ahnung eines Fluchtplans gibt. Die DIN-A4-großen Zeichnungen von Nicolas Brachet sind realistisch und erzeugen eine dichte Atmosphäre, Olivier Jouvrays Charaktere haben Tiefe und Eigenheiten. Am Ende feiern ihre Protagonisten die erfolgreiche Flucht – während „Tunnel 57“ mit dem tragischen Tod des DDR-Grenzsoldaten Egon Schultz schließt, der von einer Kugel getroffen wird, als der Tunnel auffliegt.

Reinhard Kleist ist einer der großen Namen des deutschen Autorencomics, bekannt geworden ist er für seine biografischen Werke. Neben Big Shots wie Johnny Cash und Elvis Presley widmete er auch dem Auschwitz-Überlebenden und Profiboxer Harry Haft ein Album – und in „Der Traum von Olympia“ der Somalierin Samia Yusuf Omar. Die Leichtathletin war 2008 die Flaggenträgerin ihres Landes bei den Olympischen Spielen. Anfang 2012 ertrank sie vor Malta, mit 21. Über drei Jahre war sie auf der Flucht aus einem Land, in dem sie keine Zukunft für sich als Sportlerin sah und in dem sie als Frau von den islamistischen Al-Shabaab-Milizen unterdrückt wurde. Kleist besuchte für Recherchen Sizilien und den Nordirak, traf die Schwester von Samia Omar und wühlte sich durch die Facebook-Einträge der Verstorbenen, die eine wichtige Rolle im Comic spielen. Das Ergebnis ist ein sehr persönliches und überraschend schwungvoll und unsentimental erzähltes Werk über ein Schicksal, das stellvertretend für so viele andere steht.

Michael Brake ist in der fluter.de-Redaktion für Kulturthemen zuständig. Über Comics schreibt er regelmäßig, unter anderem für die „taz“ und „Zeit Online“