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Editorial

Zum fluter-Heft: Südamerika

Wenn wir im Alltag über „die Amerikaner“ sprechen, sind oft nur die USA gemeint. Was dabei ausgeblendet wird, hat es allerdings in sich: ein Subkontinent voller geografischer Wunder, kultureller Vielfalt und gesellschaftlicher Widersprüchlichkeit. Wer sich näher mit dieser Weltgegend beschäftigt oder selbst dort unterwegs ist, spürt schnell die merkwürdige Spannung zwischen dem Wiedererkennen altbekannter westlicher Muster und völlig anderen Wirklichkeiten und Gegebenheiten.

Es gibt verschiedene Tiefendimensionen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse Südamerikas prägen. Eine ist der Kolonialismus, seine Erfahrungen und Hinterlassenschaften, die immer noch präsent sind. Diese Geschichte ist doppelt gebrochen: als die der Landnahme durch die Europäer und der damit einhergehenden Vernichtung und Unterdrückung der indigenen Völker mitsamt der folgenden Sklaverei und als Vorgeschichte der Kolonisten in eigener kolonialer Abhängigkeit von fernen europäischen Mächten. Die Staaten Südamerikas leiden auch Generationen später unter den Konflikten, die aus dieser Kolonialvergangenheit herrühren. Indigenen werden bis heute zum Teil ihre Rechte nicht gewährt, Nachfahren afrikanischer Sklaven und der Europäer suchen nach einer gemeinsamen Identität.

Die Demokratien in Südamerika sind noch jung und oft ungefestigt. Die autoritäre Versuchung, Macht zu erobern und Ordnung zu schaffen, ist aktuell gerade wieder am Wirken, mit allen Folgen zum Beispiel in Brasilien oder Venezuela. Die Jahrzehnte des Bürgerkriegs, massenhafte Erfahrungen der Gewalt unter Militärdiktaturen haben sich tief in das Gedächtnis vieler Bevölkerungen eingeschrieben. Diese Verbrechen des letzten Jahrhunderts sind oft noch nicht oder nur mangelhaft aufgearbeitet. Wie können Konflikte gelöst werden, indem sich vorher erbittert bekämpfende Gruppen in den politischen Prozess einbezogen werden? Ein positives Beispiel könnte der Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC werden.

Die ökonomische Ungleichheit und die Fixierung auf global nachgefragte Rohstoffe sind eine weitere Hypothek. Südamerika ist eine rohstoffreiche Region und hat fruchtbare Böden. Wie sich daraus dauerhaft stabile Wirtschaftssysteme schaffen lassen, ist zentral für die Zukunft des Kontinents und eine offene Frage.

Bei allen Spannungen ist Südamerika auch voller faszinierender Menschen mit ihren Geschichten, ihrem Einfallsreichtum und ihrer fantasievollen Streitbarkeit. Es gibt auch Staaten, die auf einem guten Weg sind – Uruguay bekämpft erfolgreich die Armut und hat schon 2013 die Ehe für alle eingeführt. Bolivien versucht, seine Rohstoffe so abzubauen, dass die eigene Bevölkerung profitiert, und hat das „vivir bien“ in die Verfassung geschrieben.

Südamerika ist ein entscheidender Schauplatz im Kampf gegen den Klimawandel: Gelingt es, den Regenwald zu erhalten? Hier kommen auch wir in Europa ins Spiel – wie fair dürfen Preise für Lebensmittel sein, wie ignorant bleiben wir den ökologischen Kosten gegenüber? Wie können gerechte umweltpolitische Regelungen auch über die Kontinente hinweg gestaltet werden? Vielleicht ist Südamerika uns doch näher, als wir dachten.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.