Fußball wird auf der ganzen Welt gespielt, geliebt und verstanden. Fußball verkauft sich blendend und mit ihm kann man überall alles Mögliche verkaufen. Warum ist das so? Der amerikanische Journalist Franklin Foer hat sich mal umgeschaut.

fluter: Herr Foer, Fußballfans in den USA hatten es lange Zeit nicht leicht. Die USA waren eine fußballfreie Zone.

Franklin Foer: Das waren schlimme Zeiten. Doch nach und nach schlossen neue Technologien diese Lücke. Heute bringen Internet und Satelliten-TV, der Herr sei gepriesen, Fußballspiele aus Europa und Südamerika in mein Wohnzimmer. Zum Beispiel den vereinseigenen Kabelkanal von Real Madrid oder Partien aus Paraguay, England und Italien. Meine Lieblingsmannschaften sind der FC Arsenal und vor allem der FC Barcelona.

Dann sind Sie ein Globalisierungsgewinnler. Sie profitieren als Fußballfan von dem Prozess, den der Globalisierungs-Euphoriker Thomas Friedmann als "unerbittliche Integration der Märkte, Nationen und Technologien" beschrieb, die es Individuen und Unternehmen ermögliche, "sich schneller, effektiver und billiger als je zuvor um den Globus zu bewegen". Rollt jetzt auch der Ball schneller?

Für mich hat die Globalisierung positive Folgen gehabt. Aber genau wie die wirkliche Welt ist auch die Fußballwelt kompliziert, unübersichtlich und voller Widersprüche. Es hieß doch einmal, dass die Globalisierung den Entwicklungsländern helfen werde, ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen; dass wir alle davon profitieren, wenn die Welt kleiner wird. Globalisierung ist nicht prinzipiell gut oder böse. Aber genau wie dieser Prozess auf der wirtschaftlichen Ebene Dinge wie Sweatshops oder exzessives Outsourcing hervorgebracht hat, verschärft er im Fußball Probleme wie Korruption oder Rassismus.

Sie haben Fußballspiele in Brasilien, im Iran, in der Ukraine und in Spanien besucht. Wissen Sie jetzt, warum Fußball auf der ganzen Welt so beliebt ist?

Es gibt sicher eine gewisse Verbindung zwischen dem Spiel selbst und seinem Erfolg: dass man kaum Ausrüstung dafür braucht, dass man es in jedem Klima spielen kann. Der zentrale Grund ist aber wohl seine Geschichte. Fußball war das erste Beispiel für das Phänomen, das wir heute Globalisierung nennen. Fußball war der erste weltweite Hype – vor Hula-Hoop und Coca-Cola – und ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einer massiven, nie da gewesenen Welle um die Erde gegangen. Der Fußball kam zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Welt. Sein Geburtsland England war damals die kulturelle Hegemonialmacht und übte großen Einfluss auf andere Länder aus. Außerdem entstand gleichzeitig die Massenkultur; mit Massenmedien wie Radio und später dem Fernsehen. Durch all diese Faktoren sicherte sich der Fußballsport ein Monopol, bevor er sich einer ernst zu nehmenden Konkurrenz gegenübersah.

Mit der Eleganz des Hackentricks hat das also gar nichts zu tun?

Kaum. Wenn Basketball unter den gleichen Voraussetzungen auf die Welt gekommen wäre, hätten wohl Dunking und Dreier die Welt heute ähnlich im Griff wie Fallrückzieher und Foul. Der Grund für den Erfolg des Fußballs hat wirklich mehr mit dem sozioökonomischen und politischen Wandel zu tun als mit der Schönheit des Spiels.

Ernüchternd. Trotzdem hat der Sport einen enormen Einfluss. Jürgen Klinsmann schreibt im Vorwort zu Ihrem Buch mit gewohntem Übermut, dass "sich die Probleme und Hoffnungen der Welt im Fußball spiegeln".

Fußball wird auf der ganzen Welt geliebt. Fans und Spieler bilden einen gigantischen Markt – mit noch gigantischerem Wachstumspotenzial. Das führt dazu, dass die Globalisierung hier schneller voranschreitet als in anderen Branchen. Fußball ist das globalisierteste Phänomen überhaupt auf unserem Planeten: noch vor Rockmusik, Coca-Cola und Hollywood. Das macht aus diesem Sport ein gutes Labor, in dem man erkennen kann, wie eine komplett globalisierte Welt einmal funktionieren wird. Mit welchen Problemen und Widersprüchen sie zu kämpfen haben wird. Fußball ist für mich eine Metapher dafür, wie Menschen ihre Identität unter globalisierten Bedingungen definieren. Fans bekommen heute Ergebnisse und Bilder aus der ganzen Welt. Da stellt sich doch die Frage: Verändert sich dadurch die Bindung an regionale Clubs?

Und? Tut sie das?

Zunächst einmal: Fußball ist Teil einer regionalen Kultur. Deshalb ist die Erfahrung des Fanseins in jedem Land, ja, in jeder Stadt einzigartig. In Kiew dominiert als Deutungsmuster des Spiels zum Beispiel der ukrainische Nationalismus. In Italien, das keine lange Geschichte des Nationalstaats kennt, werden Spiele als Symbole inneritalienischer Verteilungskämpfe oder politischer Konflikte überhöht: zum Beispiel das reiche Mailand gegen das arme Neapel, die faschistische Rhetorik und Symbolik der Lazio-Rom-Fans gegen das linke Fanlager von Livorno. Politik, Kultur und Geschichte sind immer um uns herum und üben ihren Einfluss aus. Die These der Globalisierung lautet aber: Jeder Mensch wird aufgehen in einer Kultur der Massenunterhaltung, in der TV-Shows, Kinomärchen und andere Programmarten wie der Fußball die verschiedenen Rassen in einen allgemein gültigen Bezugsrahmen einbinden würden.

Das würde bedeuten, dass alle Menschen Fans von Real Madrid werden. In Ihrem Buch schildern Sie aber, wie das Glasgower Lokalderby mit unveränderter Intensität ausgetragen wird.

Lokalderbys sind überall die Spiele mit dem meisten Zündstoff. Niemand, so scheint es, kann hassen wie ein Nachbar. Doch hinter der Rivalität zwischen Celtic und den Rangers steckt mehr als Feindschaft durch Nähe. Es geht um den nie beendeten Kampf um die englische Reformation. Die Rangers sind der Club der Protestanten, die Celtics der der Katholiken. Ich stand einmal bei einem Glasgower Derby im Fanblock von Celtic und ich sage Ihnen, mir wurde ganz schön mulmig, als die Rangers-Fans sangen: "Wir stehen bis zu den Knien in eurem Blut." Das klingt, als hätte sich in den letzten 100 Jahren nichts verändert. Aber natürlich spielen auch Rangers und Celtics unter den Bedingungen der Globalisierung. Da spielen Brasilianer, Dänen, Franzosen, Afrikaner. Seit Ende der Neunziger schicken die Rangers fast genauso viele Katholiken aufs Feld wie Celtic. Aber sie verkaufen immer noch orangefarbene Trikots der protestantischen Bewegung und spielen über die Stadionlautsprecher antikatholische Lieder. Und der Rangers-Kapitän, ein Italiener und Katholik, feuert die Fans an, lauter zu singen. Das ist ganz schön absurd.

"Play global, be local!" Ist das dann also das Stichwort?

Entgegen der Logik der Globalisierung hat sich in Glasgow bis heute das geschilderte fußballerisches Stammessystem erhalten, weil es seinen Bewohner eine Art pornografisches Spektakel bildet. Die Rangers unterscheiden sich kaum von anderen Vereinen wie AC Mailand oder Arsenal London. Trotzdem sind Wappen und Traditionen für die Fans eine wichtige Konstante.

Eine Konstante, die von den Menschen trotz der scheinheiligen Inszenierung als authentisch erlebt wird und an der sie sich festhalten können, in der zunehmend unübersichtlichen Welt.

Die Globalisierung lässt die Menschen scheinbar auf ältere Quellen ihrer Identität wie Religion oder das Stammessystem zurückgreifen. Zu diesen Tiefenstrukturen eines Gemeinwesens gehört auch der Sport. Er wird als Teil der eigenen Identität begriffen, die gegen die einstürmende Welt verteidigt werden muss. Eine derartige Globalisierungsphobie kann man selbst in den USA beobachten. Dort sind viele Menschen gegen den Fußball, weil sie ihn als unamerikanisch empfinden und Angst haben, dass Amerika mit dem Baseball auch gewisse Werte über Bord wirft.

Sind Fußballvereine also so etwas wie Stämme?

Ich denke, es ist Teil der menschlichen Natur, dass man sich in Gruppen aufteilt. Fußballclubs sind wirklich Clubs, also soziale Vereinigungen, die eine Nachbarschaft, einen Block repräsentieren. Die besten Beispiele hierfür findet man in Lateinamerika. In Städten wie Sao Paulo gibt es Dutzende Clubs: Palmeiras ist der Club der italienischen Einwanderer, Portuguesa jener der Portugiesen, Corinthians spielt für die Arbeiterklasse und der FC für die Elite. Die Menschen fühlen sich in diesen Stammesstrukturen sicher.

Aber es heißt doch, dass der Fußball die Welt zusammenbringe. Was stimmt denn nun?

Auch das ist wahr. Es gibt viele Beispiele, in denen der Fußball als mächtige Kraft der sozialen Kohäsion und kulturellen Vielfalt wirkt. Nehmen Sie die Feiern nach dem französischen WM-Sieg 1998, als das ganze Land das neue bikulturelle Frankreich mit weißen und schwarzen Spielern bejubelte. Was stimmt, ist auch, dass die Weltmeisterschaft die Erde schrumpfen lässt. Jeder wird Teil einer einzigen, globalen Konversation. Es gibt nur ganz wenige Ereignisse, die das zu Stande bringen.

Ende der Neunziger kämpften die europäischen Vereine weniger um die Champions League und mehr um die asiatischen Märkte. Ist es möglich, dass ein Club Fans auf der ganzen Welt hat?

Es ist schwer, von diesen Megamarken wie Manchester oder Madrid nicht eingeschüch-tert zu werden. Sie haben sich symbiotisch mit Konzernen wie Nike und Adidas verbunden und Kontinente übergreifend Fans aus alten Loyalitäten herausgelöst und neue Anhänger herangezogen. Das geht natürlich auch nur, weil die Clubs selbst internationaler werden und so neue Identifikationspotenziale bereitstellen. Bei Bayern spielt doch auch ein Iraner, oder? Aber es gibt nur zwei oder drei wirklich global erfolgreiche Fußballvereine. Das war fast ein bisschen wie zur Zeit des Kolonialismus: Du kommst als Erster an einem Markt an, steckst deine Vereinsflagge in die Erde und rufst: meins!

Bei uns hat sogar der Zweitligist TSV 1860 München chinesische Websites.

Das ist witzig. Die wird sicher nicht oft gelesen. Denn auch im Fußball gilt: Man braucht eine gewisse Größe, um vom Weltmarkt zu profitieren.

Aber auf dem Platz wächst die Welt zusammen, oder? Bei den meisten Profi-Mannschaften spielen mehr ausländische als einheimische Spieler.

Es gab diese Zeit in den Neunzigern, als plötzlich baskische Mannschaften unter walisischen Trainern mit türkischen und holländischen Spielern aufliefen. Aus meiner Fernsehsesselperspektive sah es so aus, als wären nationale Grenzen und Identitäten im Mülleimer der Fußballgeschichte gelandet. Aber als ich dann vor Ort war, zeigte sich ein ganz anderes Bild.

Wie sah es aus?

Es gibt auch im Fußball enorme Migrationsbewegungen von Süd nach Nord. Fast wie die realen Flüchtlingstrecks aus der Dritten in die Erste Welt. Und die Menschen reisen aus ganz ähnlichen Gründen. Es spielen 5000 Brasilianer auf der ganzen Welt. Aber das sind nicht nur Starmärchen, die auf der großen Bühne in Mailand aufgeführt werden. Die Jungs spielen auch auf den Färöer-Inseln, in Albanien oder Rumänien. Weil es überall besser ist als daheim. In der Ukraine spielen zum Beispiel 15 Nigerianer. Glücklich geworden sind sie nicht. Die nigerianischen Spieler leiden in der minus 30 Grad kalten Winterpause. Neid, Vorurteile und Rassismus zerstören die Utopie. Das ist in der EU nicht anders: Selbst im multikulturellen England machen die Fans Affengeräusche, wenn ein afrikanischer Spieler aufläuft.

Am Ende beschreiben Sie Ihre Vision eines aufgeklärten Weltbürgerfans. Wie sieht der aus?

Es gibt Clubs mit einer multinationalen und pluralistischen Identität wie etwa den FC Barcelona. Barca rettet den Fußball vor der Kritik, dass er die Menschen auch im 21. Jahrhundert zu Steinzeitmenschen macht. In Barcelona gibt es ein Bewusstsein, das ich "milden Nationalismus" nennen möchte. Die Barca-Fans vergöttern ihren Club – und versteigen sich fast nie in Feindseligkeiten gegenüber anderen Fans. Dafür sind sie viel zu beschäftigt, der Schönheit und dem Zauber des Fußballs zu huldigen. Ob ich damit Recht habe, kann ich nicht sagen. Ich bin ja nur ein Fan.

Fotos: Bilder entnommen aus dem sehr schönen Bildband "Tore" von Neville Gabie, © Neville Gabie/Sanssouci Verlag 2006