Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die meisten Menschen langweilt, wenn man, selbst in kürzester Form, die Geschichte der EU erzählt. Ich bin ein Freund dieser Langeweile. Denn ich wünsche weder mir noch jemandem anderen die zweifellos extrem spannende Geschichte, die ein Zerbrechen der EU und der Rückfall in ein Europa der konkurrierenden Nationen zweifellos zur Folge hätten.

Wer die gegenwärtige Krise der EU, die sogenannte Finanzkrise, ausgelöst durch das Haushaltsdefizit Griechenlands, für solidarisch unlösbar und die jetzt notwendigen konsequenten Schritte der Vereinigung Europas in Hinblick auf die öffentliche Meinung für nicht machbar hält, der sollte an den Beginn der Entwicklung zurückdenken und versuchen, sich Folgendes vorzustellen: Um nach dem Zweiten Weltkrieg die supranationale Hohe Behörde der Montanunion zu etablieren, war es notwendig, dass Frankreich Souveränitätsrechte an Deutschland abtrat. Wie wird wohl die Stimmung in Frankreich gewesen sein? Frankreich war eben noch von Deutschland besetzt und gedemütigt gewesen, nun aber befreit und Siegermacht, Deutschland in der öffentlichen Meinung der Franzosen eine endlich niedergerungene Bande von Kriminellen.

Es war kühn, es war riskant, es war am Ende äußerst knapp, aber es ist gelungen, im französischen Parlament gegen die öffentliche Meinung eine Mehrheit dafür herzustellen, die eigenen ökonomischen Interessen mit denen Deutschlands zu verschränken und die französische Wirtschaftspolitik einer Kontrolle auch durch Deutschland zu unterwerfen. Gerade in Deutschland sollte man sich heute mit größter Dankbarkeit daran erinnern.

Nationalistisches Denken hat Millionen das Leben gekostet

Mitte des vergangenen Jahrhunderts lag Europa bekanntlich wieder einmal in Trümmern. Vier Kriege innerhalb einer einzigen Lebenszeit, der Deutsche Krieg (1866), der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), beide sogenannte nationale Einigungskriege, und vor allem die beiden europäischen Kriege, die zu Weltkriegen wurden und die im Grunde ein „zweiter Dreißigjähriger Krieg“ zur Potenz waren (1914 bis 1945), hatten den Kontinent in nicht gekanntem Ausmaß verwüstet. Die Ideologie der selbstbestimmten, selbstbewussten, selbstherrlichen Nation, die Dynamik des Nationalismus, die „Erbfeindschaft“ zwischen den Nationen, der Versuch, „nationale Interessen“ gegen andere Nationen mit aller Gewalt durchzusetzen, hatten Abermillionen Menschen das Leben gekostet, unendliches Leid über die Lebenden gebracht und in einer Kulmination des entfesselten Nationalismus zu jenem grauenhaften Menschheitsverbrechen geführt, für das Auschwitz heute als Chiffre steht.

Friedensverträge zwischen den Nationen, das war die Erfahrung, sind das Papier nicht wert, auf dem sie verbrieft und besiegelt sind. Die Nationen – das war nun die Idee der Gründerväter des europäischen Friedensprojekts – müssten institutionell und ökonomisch so verflochten und in wechselseitige Dependenz gebracht werden, dass das Verfolgen jeglichen Eigeninteresses gar nicht mehr anders als in gemeinschaftlichem Handeln möglich ist. Nur so könnten Solidarität statt Nationalitätenhass, nachhaltiger Friede und gemeinsamer Wohlstand hergestellt werden. Der historische Vernunftgrund der späteren EU ist also der blutig erfahrungsgesättigte Anspruch, den Nationalismus in einer nachnationalen Entwicklung zu überwinden, die durch supranationale Institutionen organisiert und vorangetrieben werden muss.

Was sollten das für Interessen sein, die für andere uninteressant sind?

Können Sie mir erklären, was Ihre berechtigten „nationalen Interessen“ sind, und zwar so, dass mir unmittelbar einsichtig ist, dass nur Sie als – sagen wir – Angehöriger der deutschen Nation diese Interessen mit gutem Grund haben, während kein Portugiese, kein Holländer, Italiener oder Litauer diese Interessen haben kann? Können Sie mir diese Ihre Interessen nennen, die im Sinne der Menschenrechte legitim sind und zugleich einzigartig in Europa und weltweit? Was sollte das sein? Oder ist es nicht vielmehr so, dass alles, was Sie als Ihr nachvollziehbares Interesse formulieren können, ebenso im Interesse von Portugiesen, Griechen, Holländern und so weiter wäre?

Sie haben ein Problem damit, dass die EU ein Elitenprojekt ist und nicht Ausdruck eines „Volkswillens“? Wie wäre es mit folgender Formulierung: Wenn Sie wählen können zwischen einem Nationalstaat, der, finanziert durch Ihr Steuergeld, wesentlich die Interessen einer kleinen Gruppe von nationalen politischen und wirtschaftlichen Eliten vertritt und bereit ist, diese Interessen unter Umständen auch mit Gewalt durchzusetzen, deren Opfer dann garantiert Sie sind, oder einer freien Assoziation freier Bürger, deren supranationale Institutionen Ihre Freiheitsrechte wahren und den Frieden sichern, wo immer Sie auf diesem Kontinent leben, wohin immer Sie reisen und wo immer Sie sich niederlassen und Ihr Glück suchen? Wie gesagt: Es sind nur Formulierungen. Aber die, zu der eine große Mehrheit so spontan nickt, ist lächerlicher als die etwas schöngefärbte andere.

Wenn es Länder machen, heißt es Gesetzgebung – wenn es die EU macht: Regulierungswahn!

Das Lächerliche an den Formulierungen, mit denen eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der EU in der Regel ausgedrückt wird, ist, dass sie Sachverhalte auf europäischer Ebene als bedrohlich oder skandalös beschreiben, die auf nationaler Ebene als völlig selbstverständlich und vernünftig wahrgenommen oder zumindest hingenommen werden. Was auf nationaler Ebene einfach „Gesetzgebung“ heißt, wird im europäischen Einigungsprozess pejorativ zum „Regulierungswahn“. Dass Bundesgesetze in einem Nationalstaat für alle Länder und Regionen dieses Staats gelten, ist selbstverständlich, aber europäische Richtlinien und Verordnungen werden als bedrohliche „Gleichschaltung verschiedener Kulturen und Mentalitäten“ bezeichnet und als verrückt, sinnlos und autoritär von immer mehr Menschen abgelehnt. Mir ist keine Grundsatzkritik an deutscher Bundesgesetzgebung bekannt, die ins Treffen führte, dass damit die verschiedenen Kulturen und Mentalitäten von Preußen, Bayern, Hessen, Franken oder Sachsen planiert und gleichgeschaltet würden. Objektiv ist es doch umgekehrt nicht einsichtig, warum vernünftige Rahmenbedingungen des Lebens, die für Bayern und Hessen gleichermaßen gelten, nicht auch für Slowenen, Kärntner, Katalanen oder Südtiroler gelten sollen. Die deutsche Erfahrung sollte doch gezeigt haben, dass eine Vielfalt von Kulturen und Mentalitäten mitnichten verschwindet, nur weil man ihnen gemeinsame Rahmenbedingungen zu ihrer je eigenen Entfaltung gibt.

Tatsächlich zeigt sich im Aufbrechen nationaler Ressentiments und der Wut auf Kompromisse auch hier die wahre Herausforderung: den Demokratiebegriff neu zu interpretieren und seine nationalstaatlichen Ausprägungen auf der Sondermülldeponie der Geschichte zu entsorgen.

Man kann jetzt sehr viel phantasieren, man muss sehr viel diskutieren, am Ende wird etwas völlig Neues entstehen, keine Übernation, sondern ein Kontinent ohne Nationen, eine freie Assoziation von Regionen, kein superstaatlicher Zentralismus, sondern gelebte demokratische Subsidiarität, mit einem Zentrum, in dem echte Gemeinschaftsinstitutionen vernünftige Rahmenbedingungen erarbeiten und Rechtssicherheit garantieren.

Nach der Vertreibung aus dem Paradies ist doch noch nirgendwo auf der Welt zumindest sein Hintereingang wiedergefunden worden. Alles ist daher wert, dass man es kritisiert. Aber solange das so ist, sollte man anerkennen: Die EU ist die coolste Hölle auf Erden.

 

Aus: Robert Menasse, „Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss“ © Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012