Nirgends auf der Welt werden mehr Platten pro Einwohner aufgenommen als in Jamaika. Auf 1.000 Menschen kommt statistisch eine Aufnahme. Das musikalische Herz der Karibikinsel schlägt in der Hauptstadt, in Kingston. Seit den 1950er-Jahren tourten dort mobile, mit Generatoren betriebene Soundsystems durch die Stadt. Sie spielten Ska-, Rocksteady- und Reggae-Platten, nahmen Eintritt und verkauften nebenbei Essen und Getränke. Manche dieser Soundsystems wurden lokale Berühmtheiten und zogen Tausende von Leuten an. Entscheidend für den Erfolg eines Soundsystems war es, die neueste Musik zu spielen, weswegen viele Aufnahmestudios in Kingston entstanden und zahlreiche Platten eingespielt wurden.

Über die Landesgrenzen hinaus bekannt machte die langsame, wie seltsam verzögerte Musik Jamaikas allerdings eine Band. In Trenchtown, nicht unbedingt eine bevorzugte Wohnlage, gründeten sich Mitte der 60er-Jahre die Wailers mit einem Sänger namens Robert Nesta Marley. Als Bob Marley sollte er Anfang der 70er-Jahre der erste globale Popstar aus der Dritten Welt werden.

Bis heute wird er als Stimme und Hoffnungsträger der Unterdrückten, Entrechteten und Ausgebeuteten stilisiert, vermarktet und verkitscht. Auch nachdem er 1981 an Krebs starb, blieb er ein Superstar – besonders was die Verkaufszahlen angeht: 2014 erzielte die Marke „Marley“ 20 Millionen Dollar mit Platten, T-Shirts und anderen Devotionalien.

Die Top 10 „Kingston“ von Ellen Köhlings, Redakteurin beim Reggae-Magazin „RIDDIM"

1. Jimmy Cliff: „The Harder They Come“ (1972)

Unvergessen ist die Studioszene im gleichnamigen Kultfilm von 1972, in der der junge Sänger bei seinem Selbstbestimmungsmanifest mit Zeilen wie „I’d rather be a free man in my grave, than living as a puppet or a slave“ eine so lässige wie intensive Performance hinlegt.

2. Abyssinians: „Satta Massagana“ (1976)

Der Lobgesang auf den äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. ist eine der einflussreichsten frühen Rastafari-Hymnen, in der das Gesangstrio um Bernhard Collins erstmals Amharisch, die Sprache Äthiopiens, einfließen ließ.

3. Super Cat: „Don Dada“ (1991)

Supercat war einer der wenigen Dancehall-Deejays mit Major-Plattenvertrag und hatte Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre das Genre fest im Griff. Ohne ihn gäbe es heute keinen Sean Paul, der sich bei seinem Stil ordentlich bei Super Cat bedient hat.

4. Buju Banton: „Murderer“ (1995)

Der anklagende Song nach den Morden an befreundeten Künstlern – Panhead und Dirtsman – markiert den Übergang des Dancehall-Deejays Buju Banton zum Rastafari und gipfelte in dem Album „Til Shiloh“, einem Meilenstein, mit dem er auf Albumlänge der Musik Jamaikas eine spirituelle Frischzellenkur verpasste.

5. Sizzla: „Just One Of Those Days“ (Dry Cry) (2002)

Von seinen über 60 Alben, die er in den letzten 20 Jahren ausgespuckt hat, gehört „Da Real Thing“ von 2003 mit seinem Lamento vom Verlassenwerden zweifellos zu den wichtigsten – nicht nur weil es auch heute noch von seinem Publikum gefeiert wird, als sei es gerade erst erschienen.

6. Chronixx: „Here Comes Trouble“ (2014)

Der Vertreter des aktuell grassierenden Roots Revival um Künstler wie Protoje, Kabaka Pyramid und Jah9 wurde von Millionen von Zuschauern in der amerikanischen „Tonight Show“ von Jimmy Fallon zu Recht für seinen Hit gefeiert.

7. Garnett Silk: „Kingly Character“ (1993)

Wäre er im Dezember 1994 nicht bei einer Gasexplosion ums Leben gekommen, hätte er der nächste Bob Marley werden können, hinterließ er doch nach wenigen Jahren einen Katalog, der die Wucht hatte, zur Hochphase von Dancehall den Fokus auf Roots zu verschieben.

8. Damian Marley: „Welcome To Jamrock“ (2005)

Der jüngste Marley-Spross hat den Weg für die heutige Künstlergeneration Jamaikas geebnet, indem er Roots und Dancehall für die Zukunft gewappnet und für Genres wie Hip-Hop geöffnet hat, ohne die Musik oder ihre Botschaften zu verwässern; dafür ist seine Hymne „Welcome To Jamrock“ der beste Beweis.

9. Wayne Smith: „Under Me Sleng Teng“ (1986)

Titelsong zu King Jammys legendärem, auf einem Casio-Preset (einer im Synthesizer gespeicherten Voreinstellung) basierenden „Sleng Teng“-Riddim (Instrumental), der den Übergang von analoger zu digitaler Musik in Jamaika markierte und über 300-mal als Grundlage für Sänger und Deejays diente.

10. Vybz Kartel feat. Popcaan & Gaza Slim: „Clarks“ (2010)

Ode an einen Schuhklassiker aus England, der das Kingstoner Straßenbild seit den 70ern prägt, vom umstrittenen Dancehall-Musiker Vybz Kartel, der mittlerweile lebenslänglich im Gefängnis sitzt.