Der See dampft wie ein kochender Wassertopf. Dichter Nebel steigt über den braunen Rohrleitungen entlang dem Ufer auf. Bei minus 35 Grad wird der Dampf blitzschnell zu Raureif, der mehrere Zentimeter dick auf den Rohren und der Treppe liegt, die in den See führt. 

Aus dem Nebel taucht ein Mann in einer Badehose und mit einem Bund Birkenzweigen in der Hand auf. Auch er dampft, während er in Flip-Flops über den vereisten Weg zu einer Bude aus Wellblech läuft. „Technisches Wasserbecken. Schwimmen kategorisch verboten“, warnt ein mit Schnee bedecktes Schild. „Diese Warnung ist nicht für uns“, sagt Nikita Rudenko gleichgültig. Er kommt einmal die Woche zum Dolgoje-See, egal ob es minus 10 oder minus 40 Grad sind. Er geht in einer der Blechbuden saunieren, danach taucht er ins dunkle Wasser. Denn selbst im Winter friert der Dolgoje-See in der Stadt Norilsk hinter dem nördlichen Polarkreis nicht zu – was kein Naturwunder ist, sondern ein Wunder der Industrialisierung: Die Sauna wird vom Dampf geheizt, der durch die Rohrleitungen von einem Kraftwerk in eine Kupferfabrik läuft. Das Wasser aus den Abkühlanlagen der Fabrik wird in den See geleitet und erwärmt ihn. „Das Wasser ist sauber, sonst würden hier keine Fische leben“, sagt Rudenko. Er ist Vorsitzender des Clubs der Eisbader von Norilsk. „Was wir hier tun, ist gesund, ungesund ist Wodka.“ 

Rudenko, Muskelberg, Profischwimmer und Taucher, ist in Norilsk geboren und aufgewachsen. Er arbeitet bei der Eisenbahn, die Norilsk mit dem arktischen Hafen Dudinka verbindet. Wie die meisten Einwohner will Rudenko nicht in dieser Stadt alt werden, schon mit 28 Jahren besitzt er eine Eigentumswohnung in der sibirischen Großstadt Irkutsk. 

Aber noch bleibt er. Er liebt die Stadt, er liebt sogar das schwierige Leben hier. Seine Profilseite bei der russischen Facebook-Kopie VKontakte schmückt ein Zitat von Nietzsche: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“

Das könnte auch das Motto der Stadtgründer von Norilsk gewesen sein. Dass hier, in der arktischen Wüste rund 300 Kilometer nördlich vom Polarkreis, eine Stadt entstand, war eine einzige Überwindung von Mensch und Natur. In den Bergen fand man Nickel, Kupfer, Palladium, Kobalt und Platin. Metalle, die der sowjetische Staat dringend für seine Industrie brauchte. Ab 1935 wurden von Gulag-Häftlingen Bergwerke und Fabriken gebaut. Wie viele von ihnen bei dieser Arbeit ums Leben gekommen sind, weiß niemand. Tausende? Zehntausende? Ihre Knochen und Schädel ragen auch heute noch an manchen Stellen aus der Erde, wenn der Sommer den Permafrostboden etwas aufgeweicht hat. 

Heute gehören die Kupfer- und Nickelfabrik und das Metallkombinat „Nadeschda“, was auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet, dem Unternehmen „Norilsk Nickel“, einem der größten Metallproduzenten der Welt. Der Firma gehören auch die Bergwerke, die Eisenbahn, bei der Nikita Rudenko arbeitet, und sechs Eisbrecher, die sich mit Metallen und Erzen durch das Nordpolarmeer pflügen. Norilsk Nickel ist ein Imperium mit rund 11,5 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz, der größte Arbeitgeber der Stadt, dessen Verwaltung aus ehemaligen Managern der Firma besteht. Norilsk Nickel ist auch: einer der größten Luftverschmutzer Russlands. Millionen Tonnen Schwefel-dioxid werden jedes Jahr von den Fabriken freigesetzt. Im Ranking der russischen Statistikbehörde gilt Norilsk als die schmutzigste Stadt Russlands.

Vor allem im Sommer, wenn der Wind die Abgase in die Stadt trägt, bekommen die Einwohner den Geruch und das Kratzen im Hals zu spüren. „Wir machen die Fenster zu, was kann man sonst machen“, zuckt Rudenko mit den Achseln. „Man muss es philosophisch sehen. Es ist immer besser dort, wo wir gerade nicht sind.“ Eigentlich reden die Einwohner nicht gern über die Umweltprobleme. Zwar haben fast alle Verwandte oder Bekannte, die in einer Nickelfabrik gearbeitet haben und früh an Krebs gestorben sind, aber dieses Trauma wollen sie verdrängen. Es ist der Preis, den sie für ihren Wohlstand zahlen. 

„Ohne Norilsk Nickel gäbe es diese Stadt nicht“, sagt Igor Schtschepilow. Mit 49 Jahren ist er vom Fabrikarbeiter zum Abteilungsleiter aufgestiegen. „Norilsk hat mir alles gegeben. Ich kann meine Eltern und Kinder finanziell unterstützen, und ich bin schon um die ganze Welt gereist“, sagt er. 

Er hat sogar einen Fahrer, der ihn am Wochenende mit dem Geländewagen in eine Garage fährt, in der ein Schneemobil geparkt ist. Sein Freund, der Bergwerksdirektor Pjotr Isossimow, und der Mechaniker Farchad Sakajew warten schon. Es sind minus 40 Grad, es windet heftig, aber Schtschepilow sagt: „Es ist nie zu kalt, nur manchmal hat man falsche Kleidung an“. In eine Tasche rechts vom Steuer steckt er einen Karabiner. Waffen und Jagdlizenzen sind in Norilsk sehr verbreitet. „Als ich 16 war, nahm mich mein Vater auf die Jagd mit“, sagt Schtschepilow. „Wir sind 25 Kilometer mit Langlaufski gelaufen, auf dem Rückweg musste ich auf dem Rücken oft Teile vom Rentier tragen, 20 Kilo Fleisch.“ Heute jagt er meist Rebhühner oder Hasen. „Früher habe ich die mit dem Schneemobil überfahren, weil mir die Patronen zu schade waren“, sagt er. Dann wärmen sie alle die Motoren auf und fahren raus aus der Stadt in die Tundra.

Die Birken und Lärchen außerhalb der Stadt haben schwarze, verkohlte Zweige – sie sind durch den Schwefel aus den Fabriken verbrannt. Drei Schneemobilfahrer geben Vollgas und rasen am zugefrorenen Fluss entlang. Zum Jagen geht es 100 Kilometer nördlich in die Tundra, zum Fischen 100 Kilometer Richtung Süden. Beide Distanzen schaffen sie bei gutem Wetter in einer Stunde. „Wir fahren immer zu dritt und nehmen nur erfahrene Menschen mit, auf die man sich in der Tundra verlassen kann“, sagt der Bergwerksdirektor Isossimow. „Wir mussten schon oft die Maschinen aus dem Schnee ausgraben.“ Die Menschen in Norilsk sind hilfsbereit, es herrscht aber auch ein deutlicher Macho-Kult. „Wir lieben das Extreme, so stellt man sich selbst auf die Probe“, sagt Schtschepilow. „Ein echter Mann muss einen Ausweg für seine Energie finden. In Moskau würde ich das vermissen.“

Noch immer ist das Verhältnis von Mensch und Natur in Norilsk ein Kampf. Auf der vereisten Erde werden selbst hohe Plattenbauten auf Pfählen gebaut. Dutzende Häuser in der Stadt haben trotzdem überall Risse. Sie stehen leer mit eingeschlagenen und zugeschneiten Fenstern. Wegen des Permafrosts gibt es auch keine Landwege nach Norilsk. Die Stadt ist nur mit dem Flieger erreichbar, über die Nordostpassage oder im Sommer über den Fluss Jenissei. Den Rest von Russland nennt man in Norilsk „Festland“, als würde man auf einer Insel leben. 

Bei der Ankunft am Flughafen gibt es zudem Passkontrollen, reingelassen werden nur russische Staatsbürger oder Ausländer mit einer Sondergenehmigung. In der Sowjetunion war Norilsk eine komplett geschlossene Stadt. In den 90er-Jahren wurde die Einreise für alle erlaubt. Doch 2001 wurde die Stadt wieder für Ausländer geschlossen, offiziell, um die Arbeitsmigranten von der Stadt fernzuhalten.

Wenn ein „schwarzer“ Schneesturm beginnt, die schwefeligen Flocken durch die Luft wehen, werden die Wege gesperrt, das Leben steht dann für mehrere Stunden still. Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen – zusammen mit ihren Topfpflanzen, die mit Tageslichtlampen beleuchtet werden, damit sie die 45 Tage lange Polarnacht überstehen. 

Das erste Stück unberührter Natur liegt eine Hubschrauberstunde entfernt oder 250 Kilometer mit dem Schneemobil. Der Biologe Oleg Beglezow fährt manchmal für mehrere Monate hin. „90 Kilometer lang sehe ich nur verbrannte Landschaft, dann kommen endlich lebendige Tannen“, sagt er. Er lebt dann allein in der Wildnis, beobachtet das Wetter und die Tiere. Das Naturschutzgebiet ist nach offiziellen Angaben von der Industrie nicht betroffen, weil es einen Kilometer höher in den Bergen liegt. Nun will man dort „Ökotourismus“ betreiben. Auch Norilsk Nickel sponsert einige Naturschutzprogramme. Damit kämpft das Unternehmen gegen das negative Image und die Umweltstrafen, die es regelmäßig für die Nichteinhaltung von gesetzlichen Umweltnormen zahlen muss. Daher soll auch im kommenden Jahr die alte Nickelfabrik – die größte Verschmutzungsquelle – geschlossen werden. Im Januar zeigte eine Prüfung des russischen Umweltministeriums, dass die Obergrenze an Schwefeldioxidabgasen von dieser Fabrik um das 44-Fache des Erlaubten überschritten wurde. 

Welche Folgen diese Produktion für die Mitarbeiter hatte, darüber wurde in der Sowjetunion nie geforscht, das Thema war tabu. Entweder starben die Arbeiter, bevor sie in Rente gingen, oder sie verließen die Stadt und wurden so von keiner Statistik erfasst. „Eigentlich ist die Lage bei uns nicht schlimmer als in jeder Großstadt“, erklärt Konstantin Gorbel, der Chefarzt des größten Krankenhauses der Stadt. Sein Spezialgebiet ist Onkologie. „Leider wissen wir nicht genau, was den Krebs verursacht“, sagt er. „Die Nickelproduktion ist ein Risikofaktor. Aber Rauchen ist das auch.“ Auf seinem eigenen Schreibtisch steht ein Aschenbecher, voll mit Zigarettenstummeln. In der Ecke steht eine E-Gitarre. „Ich war hier früher ein Rockstar“, lacht er.

Viele Einwohner sehen es so: Sie sorgen für ihre Gesundheit, indem sie oft in die Sonne fahren, schließlich haben sie zwei bis drei Monate Urlaub. Und leisten können sie sich das eher als die Russen in anderen, ärmeren Städten. Der Arbeit-geber spendiert sogar die Fahrten ans Meer in die schönen Sanatorien, wie es einst in der Sowjetunion der Staat tat. Solange der Nickel und die anderen Metalle ins Ausland verkauft werden, bleiben Firma und Stadt reich. Den Rest nimmt man in Kauf. 

„Das Metall in diesen Bergen wird noch für die nächsten hundert Jahre ausreichen“, sagt Abteilungsleiter Igor Schtschepilow. Und danach? „Danach? Hundert Jahre sind länger als mein Leben.“ 

Bis er in Rente geht, will er sein Leben in Norilsk genießen. Am Abend, als er mit dem Schneemobil in der Dunkelheit in die Stadt zurückkehrt, sieht er, wie ein Rebhuhn im Licht der Scheinwerfer erstarrt. Er zieht den Karabiner raus. Ein Schuss. Ein zweiter Schuss. Er springt in den Schnee und holt den toten Vogel, der nicht einmal versucht hat wegzufliegen. Weiße Federn fliegen im Wind.