„Die Wirtschaftstheorie vermittelt uns eine wichtige Erkenntnis“, sagt die Lehrerin. „Es ist unerlässlich, die Wünsche des Verbrauchers gründlich zu erforschen. Dieses Prinzip solltet ihr auch bei der Suche nach einem reichen Mann anwenden. Beim ersten Date gilt die Grundregel: Redet niemals über euch selbst. Hört ihm zu. Findet ihn faszinierend. Findet seine Wünsche heraus. Studiert seine Hobbys. Und dann verändert euch dementsprechend.“

Akademie für Gold-Digger. Eine Schar ernsthafter Blondinen schreibt aufmerksam mit. Einen Sugardaddy zu finden ist eine Kunst, eine Berufung. Die Akadamie hat Flure aus Marmorimitat, hohe Spiegel und mit Goldfarbe aufgemalte Ornamente. Gleich nebenan sind ein Wellnessbereich und ein Schönheitssalon. Nach dem Gold-Digger-Unterricht geht’s zum Waxing und ins Solarium. Die Lehrerin ist eine Rothaarige in den Vierzigern mit einem Abschluss in Psychologie und BWL, einem schrillen Lächeln und einer hellen, affektierten Stimme: „Tragt beim ersten Date niemals Schmuck, der Mann soll denken, ihr seid arm. Weckt in ihm den Wunsch, für euch Schmuck zu kaufen. Kommt in einem klapprigen Auto, damit er euch einen schickeren Wagen kaufen möchte.“

Die Schülerinnen schreiben alles fleißig mit. Sie haben 1.000 Dollar pro Kurswoche bezahlt. In Moskau und Sankt Petersburg finden sich Dutzende solcher „Akademien“ mit Namen wie „Geisha-Schule“ oder „Der Weg zur Vollblutfrau“. „Ich will einen Mann, der fest auf beiden Beinen steht. Bei dem ich mich sicher fühle wie hinter einer Steinmauer“, sagt Oliona. Sie hat den Kurs kürzlich absolviert und bedient sich der Parallelsprache der Gold-Digger (eigentlich meint sie, sie will einen Mann mit Geld). Die Lebensart der Gold-Digger ist zu einem der beliebtesten Mythen Russlands geworden. In Buchhandlungen stapeln sich Selbsthilfebücher mit Tipps für junge Frauen, wie man sich einen Millionär angelt. Oliona lebt in einer kleinen, funkelnagelneuen Wohnung mit ihrem nervösen kleinen Hund. Das Mietshaus liegt an einer der Hauptstraßen, die zum Nobelvorort Rubljowka führen. Reiche Männer bringen ihre Geliebten dort unter, damit sie auf dem Weg nach Hause auf einen Sprung bei ihnen vorbeischauen können.

Oliona kommt ursprünglich aus dem Donezbecken, aus dem ukrainischen Teil des Steinkohlegebietes, das in den 90er-Jahren von Mafiabossen übernommen wurde. Ihre Mutter war Friseurin. Oliona erlernte denselben Beruf, doch der kleine Frisiersalon ihrer Mutter machte Pleite. Als 20-Jährige kam Oliona dann fast mittellos nach Moskau und fing als Stripperin in einem der Kasinos an. Sie tanzte gut und lernte so ihren Sugardaddy kennen. Jetzt bezieht sie den Mindestlohn einer Moskauer Geliebten: Wohnung, Auto und zweimal jährlich ein einwöchiger Urlaub in Ägypten oder der Türkei. Als Gegenleistung bietet sie ihrem Sugardaddy, wann immer er will, rund um die Uhr, ihren geschmeidigen, sonnengebräunten Körper, stets gut drauf, stets verfügbar.

Wenn es hart auf hart kommt, nimmt Oliona auch einen blöden Millionär

Olionas Spielwiesen sind eine Reihe von Klubs und Restaurants, die fast ausschließlich dazu gedacht sind, dass Gönner dort nach jungen Frauen Ausschau halten können und junge Frauen nach Gönnern. Die Männer laufen unter der Bezeichnung „Forbeses“ (nach der „Forbes“-Liste der Superreichen); die Frauen sind „tiolki“, Vieh. Es ist ein Markt, auf dem die Käufer das Sagen haben: Jeder „Forbes“ hat die Auswahl aus Dutzenden, nein, Hunderten „tiolki“.

Gegen Mitternacht sucht Oliona den neuesten Klub auf. Kolonnen von schwarzen (immer schwarzen), kugelsicheren Bentleys und Mercedes-Limousinen rollen im Schneckentempo Richtung Eingang. In der Nähe der Tür rutschen und schlurfen Tausende von Stilettos über Glatteis, schaffen es irgendwie, makellos die Balance zu halten. (Ach, du Volk von Ballerinen!) Tausende von platinblonden Haarmähnen streifen über nackte, dauergebräunte Rücken, auf denen der Schnee schmilzt. Rufe aus Tausenden von aufgespritzten Lippen zerreißen die Winterluft, betteln um Einlass. Diese Nacht ist die einzige Chance für die Mädchen, zu tanzen und einen Blick über die sonst unüberwindlichen Schranken aus Geld, Privatarmeen und Sicherheitszäunen zu werfen. Die bestgeteilte Stadt der nördlichen Hemisphäre, in der die Megareichen abgetrennt in einer eigenen seidigen Zivilisation leben, öffnet an einem Abend der Woche eine kleine, enge Schleuse ins Paradies.

Das Innere des Klubs erinnert an ein Barocktheater. In der Mitte ist die Tanzfläche, und an den Wänden verlaufen mehrere Reihen Logen übereinander. Die Forbeses sitzen in den verdunkelten Logen (für dieses Vergnügen blättern sie Zehntausende hin), während Oliona und Hunderte andere junge Frauen unten tanzen, einstudierte Blicke hinauf zu den Logen werfen in der Hoffnung, nach oben eingeladen zu werden. Die Logen liegen im Dunkeln. Die Frauen haben keine Ahnung, wer genau da sitzt; sie flirten mit Schatten.

„So viele 18-Jährige, die mir im Nacken sitzen“, sagt Oliona. Sie ist erst 22, aber damit nähert sie sich bereits dem Ende der Karriere einer Moskauer Geliebten. „Natürlich mach ich mir noch immer Hoffnungen auf einen echten Forbes“, sagt sie, „aber wenn es hart auf hart kommt, würde ich mich auch mit einem blöden Millionär begnügen, der gerade aus der Provinz eingetrudelt ist, oder mit einem von diesen langweiligen Expats. Oder mit einem widerlichen Alten.“

Zurück in der Akademie, geht der Unterricht weiter. „Heute beschäftigen wir uns mit dem Algorithmus des Beschenktwerdens“, erklärt die Lehrerin ihren Schülerinnen. „Wenn ihr von einem Mann ein Geschenk bekommen möchtet, stellt euch an seine linke, irrationale, emotionale Seite. Die rechte ist die rationale Seite: Wenn ihr über Geschäftliches sprecht, stellt ihr euch auf seine rechte Seite. Aber falls ihr ein Geschenk haben wollt, geht ihr links von ihm in Position. Falls er in einem Sessel sitzt, geht in die Hocke, damit er sich größer fühlt, als wärt ihr ein Kind. Spannt eure Vaginalmuskeln an. Jawohl, eure Vaginalmuskeln. Dadurch weiten sich eure Pupillen, und ihr wirkt attraktiver."

„Feminismus ist ein Fehler“, findet Lena

Lena möchte Popstar werden. Frauen wie sie, ohne Talent, aber mit einem reichen Gönner, heißen in Moskau „singende Höschen“. Lena weiß ganz genau, dass sie nicht singen kann, aber sie weiß auch, dass das keine Rolle spielt. „Ich verstehe nicht, was es bringen soll, jeden Tag von morgens bis abends in irgendeinem Büro zu schuften. Es ist erniedrigend, so arbeiten zu müssen. Ein Mann ist ein Fahrstuhl nach oben, und ich habe vor, ihn zu nehmen.“ Die rothaarige Lehrerin mit BWL-Abschluss pflichtet ihr bei: „Feminismus ist ein Fehler. Warum sollte eine Frau sich zu Tode rackern? Das ist die Rolle des Mannes. Wir haben die Aufgabe, uns als Frauen zu perfektionieren.“

Oliona wird sich selbst nie und nimmer als Prostituierte sehen. Es gibt da einen deutlichen Unterschied: Prostituierte können sich nicht aussuchen, mit wem sie Sex haben wollen, das entscheiden ihre Zuhälter. Oliona geht dagegen selbst auf die Jagd. Sie hat keine Angst vor Armut, vor Demütigung. Falls sie ihren Gönner verliert, wird sie einfach von vorne anfangen, sich wieder erfinden und auf „Neustart“ drücken.

Um fünf Uhr morgens wird die Musik immer schneller, und in der pulsierenden, schneeigen Nacht werden die „tiolki“ zu Forbeses und die Forbeses zu „tiolki“, die sich so schnell bewegen, dass sie ihre eigenen verwischten Schemen im Stroboskoplicht auf der Tanzfläche sehen können. Die Männer und Frauen betrachten sich selbst und denken: „Hab ich das wirklich erlebt? Bin das da ich? Mit den vielen Maybachs und Vergewaltigungen und Gangstern und Massengräbern und Penthouses und Glitzerkleidern?“Um fünf Uhr morgens geht in den Klubs so richtig die Post ab. Die Forbeses taumeln alkoholisiert aus ihren Logen nach unten, grinsend und schwankend. Sie sind alle gleich gekleidet – teure gestreifte Seidenhemden, die in Designerjeans stecken –, alle sonnengebräunt und füllig und triefend vor Geld und Selbstzufriedenheit. Mittlerweile sind sie alle sturzbesoffen und torkeln schwitzend herum, fast wie in Zeitlupe, so langsam. Sie tauschen diese lieben, einfachen Blicke aus, die gegenseitige Anerkennung signalisieren, als wären die Masken gefallen und sie alle bei einem einzigen großen Spaß dabei. Und dann begreift man, wie ähnlich die Forbeses und die Mädchen sich in Wirklichkeit sind. Sie haben sich alle aus der alten Sowjetwelt herausgestrampelt. Der Öl-Geysir hat sie in verschiedene finanzielle Universen gespien, aber sie verstehen einander noch immer vollkommen. Und ihre lieben, einfachen Blicke scheinen zu sagen, wie lustig diese ganze Maskerade doch ist, dass wir gestern noch alle in Gemeinschaftswohnungen lebten und Sowjethymnen sangen und Levis und Milchpulver für Luxusartikel hielten, und jetzt sind wir umringt von Nobelkarossen und Privatjets und süßem Prosecco. Das Geld ist so schnell über Russland gekommen wie der Glimmer in einer geschüttelten Schneekugel, und deshalb fühlt es sich total unwirklich an, wie etwas, das man nicht hortet und spart, sondern in dem man Pirouetten dreht und tanzt, wie die Federn bei einer Kissenschlacht, wie Pappmaché, aus dem man unterschiedliche, sich rasch verändernde Masken schneiden kann.

Peter Pomerantsev hat einige Jahre als Journalist in Russland gearbeitet. Ein Buch mit seinen Reportagen, darunter auch diese, erscheint am 28. September 2015 bei DVA.

Illustrationen: Jindrich Novotny