Vor allem seit den Anschlägen des 11. September 2001 werden Differenzen wie Religion oder Kultur wieder in Debatten thematisiert. Ist ein Raum des Politischen denkbar, der ohne die Kategorie des "Fremden" auskommt, ein Raum, der sich nicht der Logik von Freund gegen Feind bedient? Wir stellen die wichtigsten und einflussreichsten Theorien dazu vor.Im Freund/Feind-Diskurs der politischen Philosophie ist der "Fremde" ein außerordentlich wichtiger Begriff. Zwischen mir und ihm besteht eine "Differenz" – die des Geschlechts, der Herkunft oder Kultur. Fremdheit ist die Nichtzugehörigkeit zu einem "Wir". Das Fremde kann ausgeschlossen, mit dem "Feind" gleichgesetzt oder aber als das interessante "Andere" gesehen werden. Nicht immer ist der Fremde der Feind, aber zwischen dem Feind und mir liegt immer die Differenz.

Aristoteteles – Nikomachische Ethik

In Athen entstand die Vorstellung von einer politischen, also bürgerlichen Gemeinschaft, für die Aristoteles den Begriff "politiké koinonia" verwendete. Bürger wurde man auf Grundlage seiner Teilnahme am politischen Leben und nicht mehr aufgrund rassischer oder sozialer Kriterien. Aristoteles sagt: "So weit Gemeinschaft besteht, soweit besteht die Freundschaft." Freundschaft existiert also nicht zwischen denen, die verschieden sind, sondern zwischen "Gleichen".

Sein Begriff der Freundschaft ist ein explizit politischer, weil er auf der freien Entscheidung basiert, ein gemeinsames staatliches Leben zu führen. Eine Freundschaft, der aber keine persönliche Beziehung zueinander zugrunde liegen muss.

Feindschaft kann es, so Aristoteles, nur mit Nichtgriechen geben – den "Barbaren", die als Feinde der Demokratie betrachtet werden. Innerhelenische Feindschaft führt zu Zwist. Außerhelenisch jedoch bedeutet sie Krieg.

Die "Nikomachische Ethik" von Aristoteles kann man online im "Projekt Gutenberg" lesen.

Jacques Derrida – Politik der Freundschaft


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(Foto: Suhrkamp Verlag)

Freundschaft wie Feindschaft setzen nach Jacques Derrida eine Beziehung voraus. Ihm geht es gerade um die "Differenz" und er entwickelt die Theorie der Demokratie als Ort, "wo jeder in gleicher Weise ganz anders zu sein" vermag. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde bedeutet, auf jede Zurichtung des Individuums zu verzichten. Damit spricht er sich klar gegen Leitkulturen aus. Eine davon sei, dass der politische Diskurs bis heute "männlich" ist und die Weiblichkeit aus der Politik ausschließe. Die Renaissance des nationalsozialistischen Vordenkers Carl Schmitt sieht er als Zeichen der Krise des Politischen. Schmitt habe ausgerechnet im Namen des christlichen Europas die Freund-Feind-Logik als Leitdifferenz für das Politische an sich eingeführt, obwohl das Christentum bereits die Familialität der Antike abgelöst habe und mit dem Appell der Nächstenliebe ausdrücklich den Feind einbezog.

Jacques Derrida: Politik der Freundschaft (Suhrkamp 2002, 492 S., 16 €)

Julia Kristeva – "Fremd bin ich mir selbst"


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(Foto: Suhrkamp Verlag)

Die Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva meint, die bloße Anerkennung des Anderen sei nur Ausdruck der eigenen Überlegenheit. Auch die Absorption, das In-sich-Aufnehmen des Fremden habe in der Gesellschaft keinen Raum, da moderne Individuen auf ihre Verschiedenheit bedacht sind.

Kristeva schlägt vor, das Fremde weder zu integrieren noch zu verfolgen und weist auf die Verknüpfung das Eigenen und des Fremden in uns selbst hin. Mit Sigmund Freuds Entdeckung der Selbstanalyse dringt die Fremdheit in die Vernunft ein. Das Wissen darum, das wir uns selbst fremd sind, ist der Rückhalt, "von dem aus wir versuchen können, mit uns selbst zu leben".

Allgemeingültigkeit erhielten Werte und Menschenrechte nach Kristeva somit durch das Bewusstsein der eigenen Fremdheit. Wenn alle fremd sind und wenn auch ich Fremder bin, "gibt es keine Fremden". Die eigene Abgrenzung des Fremden als ein "Ich bin nicht wie ihr" kann auch als Liebesappell verstanden werden, als Aufforderung, das eigene Anders-Sein anzuerkennen.

Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst (edition suhrkamp 1990, 213 S., 10 €)

Seyla Benhabib – Diskursethik: Jeder ist viele


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(Foto: Suhrkamp Verlag)

Im Zuge der Globalisierung verlieren die Nationalstaaten immer mehr an integrierender Kraft. Innerstaatliche ethnische und kulturelle Konflikte nehmen zu. Seyla Benhabib, Professorin für politische Theorie und Philosophie in Yale, sieht die Gefahr, dass entstehende Lücken von Fundamentalisten gefüllt werden. Die Aufgabe zeitgenössischer Gesellschaftstheorie sei, über eine neue "Politik der Identität/Differenz" nachzudenken.

Die Theorie, die zu einer "sinnvollen Synthese" führen soll, nennt sie "Diskursethik". Der Ausschluss von Fremden sei mit dem demokratischen Prinzip unvereinbar. Verschiedenheiten jenseits der "Heimat-Identitäten" müssen anerkannt, die heimatliche Identität der national definierten Staatsbürgerschaft aufgegeben werden. In einer zivilen Weltgemeinschaft mit "transnationaler Staatsbürgerschaft" gilt der Leitgedanke der Anerkennung kultureller Differenz.

Seyla Benhabib: Die Rechte der Anderen (Suhrkamp 2008, 225 S., 24.80 €)

Bernhard Waldenfels – Das Ende der Aneignung


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(Foto: Suhrkamp Verlag)

Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels begreift das Fremde als das "Außer-Ordentliche". Es "begleitet die Ordnung wie ein Schatten". Identifizierungen führen dazu, dass das Fremde kollektive Formen annimmt, "Fremdheit als Nichtzugehörigkeit zu einem Wir". Waldenfels empfiehlt das Ende der Aneignung des "Anderen" – ob in Form von Ausrottung oder Multikulti.

Das Fremde soll nicht mehr ausgehend von sich selbst betrachtet werden, sondern als etwas, "worauf wir antworten müssen", indem wir uns von vertrauten Konzepten lösen. Die neuen Gedanken gehören weder mir noch dem Anderen – sie entstehen in einem Dazwischen, ohne dass es Intersubjektivität oder Interkulturalität nicht gäbe, sondern nur die bloße Vervielfältigung des Eigenen.

Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden (Suhrkamp 1997, 240 S., 12 €, hier online zu lesen)
Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (Suhrkamp 2006, 134 S., 17.80 €)

Bruno Latour – Politische Ökologie


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(Foto: Suhrkamp Verlag)

Der französische Philosoph Bruno Latour versammelt in seinem Buch "Parlament der Dinge" alle Wesen und Dinge als "Akteure" einer modernen Gesellschaft – wobei er auch von einem "Eigensinn der Objekte" spricht. Darüber hinaus plädiert er auch für die Anerkennung der durch uns längst erschaffenen Hybride, der Kreuzungen aus Natur und Kultur, die eine Differenz zwischen diesen Polen obsolet macht. Die Natur ist für uns zu etwas geworden, das ständiger Kontrolle, Überwachung und Steuerung bedarf. Die Ökologie, so Latour, habe nur noch wenig mit Natur zu tun, sondern sei vielmehr als ein Verfahren zu verstehen, mit dessen Hilfe ein "kollektives Leben für menschliche und nichtmenschliche Wesen gehandhabt werden kann".

Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. (Suhrkamp 2009, 364 S., 15 €)

Antonia Herrscher wurde 1973 in Hamburg geboren und lebt als freie Autorin in Berlin.