Ein Roadtrip quer durch die USA. Mit jeder Meile, die man in den endlosen Weiten des Landes zurücklegt, steigt die Gewissheit, mehr und mehr Abstand von zu Hause zu bekommen. Doch wer es bis in den Bundesstaat Minnesota im Mittleren Westen geschafft hat und dann auf dem vierspurigen Highway von Minneapolis aus 90 Meilen in südwestlicher Richtung fährt, kommt Deutschland auf eine eigentümliche Art plötzlich wieder sehr nah. Denn inmitten der sanften Hügel der Prärie liegt hier das 13.500-Einwohner-Städtchen New Ulm. Sehr aufgeräumt, sehr ruhig und die Straßen schachbrettartig angelegt. Ein kleines Deutschland nach amerikanischem Muster neu errichtet.

Vor dem Glockenspiel im Zentrum der Stadt hat sich eine Gruppe weißhaariger Touristen eingefunden. Auf der Brust tragen sie Sticker mit einer Deutschlandflagge und der Aufschrift „Germans have more fun“. Haben Deutsche mehr Spaß? Es schlägt zwölf Uhr, als sich die Türchen des Glockenspiels öffnen. Selig betrachten die Rentner die Figuren, die sich zu dem alten Schlager „Rosamunde“ drehen: ein tanzendes Pärchen in Trachten, eine Siedlerfamilie, ein Mann mit einem Bierkrug und ein Native American – ein amerikanischer Ureinwohner – mit einem Speer in der Hand.

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Trompeter einer Polka-Band im Gibbon Ballroom (Foto: DOCUMERICA/National Archive, USA)

Trompeter einer Polka-Band im Gibbon Ballroom

(Foto: DOCUMERICA/National Archive, USA)

Als das Glockenspiel endet, gibt Fremdenführer George Glotzbach gleich noch ein Oktoberfestlied zum Besten: „Ein Prosit der Gemütlichkeit!“ Ein kleiner Vorgeschmack darauf, dass in New Ulm gerne feuchtfröhlich gefeiert wird: Unter dem Motto „Dance your lederhosen off“ fließt vom Frühjahr („Schell’s Bock Fest“) über den Sommer („Bavarian Blast“) bis in den Herbst (Oktoberfest) viel Bier, gebraut nach deutschem Vorbild in der zweitältesten Brauerei der USA, der „August Schell Brewery“ in New Ulm.

„Wir haben Besucher aus Deutschland, die hier heiraten und berichten, dass sie sich in Deutschland nach mehr Deutschland sehnen“, sagt Glotzbach. Dabei wirkt New Ulm eher wie eine Karikatur der deutschen oder vielmehr der bayerischen Kultur. Angst vor Klischees jedenfalls scheint es in der Stadt nicht zu geben: Deutsche hören gerne Blas- oder „Oom-pah Music“, sie essen gerne Bratwurst und Sauerkraut und trinken viel Bier. Bürgermeister Robert J. Beussman alias „Bob“ wirkt stolz auf seine Stadt „des Charmes und der Tradition“, wie es hier heißt, und besonders stolz ist er auf die echten Tannenbäume, die hier zur Weihnachtszeit aufgestellt werden anstatt der Plastikimitationen, mit denen sich andere amerikanische Gemeinden zufriedengeben.

Und ganz besonders stolz ist man in der „deutschesten Stadt der USA“ auf eine Kopie des Hermannsdenkmals, dessen Original im Teutoburger Wald bei Detmold steht. Es stellt Hermann den Cherusker dar, unter dessen Führung germanische Stämme die römischen Invasoren im Jahr 9 nach Christi Geburt vernichtend geschlagen haben sollen. Zwar ist der „Hermann the German“ in New Ulm nicht so groß wie sein deutsches Vorbild, aber immerhin nach der New Yorker Freiheitsstatue das zweitgrößte Kupferdenkmal der USA.

Millionen gingen nach Amerika

Heute steht der Koloss in der Prärie sinnbildlich für das ausgeprägte Bedürfnis vieler europäischer Auswanderer des 19. Jahrhunderts, in der neuen Heimat Amerika ihre alte kulturelle Identität zum Ausdruck zu bringen. Als im Zuge der Industrialisierung Deutschlands die Landbevölkerung verarmte, folgten Millionen dem amerikanischen Versprechen auf ein besseres Leben, auch die Resignation nach der gescheiterten Deutschen Revolution von 1848/49 spielte eine Rolle. Mehrheitlich besiedelten die deutschen Einwanderer das sogenannte „German Triangle“ zwischen Cincinnati, Milwaukee und St. Louis, wo der Boden besonders fruchtbar ist – aber auch in anderen Regionen des Mittleren Westens wie eben Minnesota ließen sie sich nieder.

New Ulm wurde 1854 von Siedlern aus dem südwestlichen Deutschland und dem Egerland, das heute Teil der Tschechischen Republik ist, gegründet. Und immer wieder hat es auch offizielle Verbindungen ins deutsche Ulm gegeben. In der Hungersnot nach dem Zweiten Weltkrieg stand das kleine New Ulm der deutschen Mutterstadt sogar mit Hilfspaketen bei, und seit 1986 findet zwischen den Städten das „Hans-Joohs-Austausch-Programm“ statt – auch weil man in New Ulm die Sprache der Vorfahren wieder mehr pflegen möchte. Denn die ist in Minnesota über die Jahrzehnte dann doch verloren gegangen, einfach weil bei vielen Bürgern der Austausch mit den Verwandten in der alten Heimat irgendwann eingeschlafen ist. Auch war es nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA eine Zeitlang verpönt, Deutsch zu sprechen.

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Die Beer Steins pflegen deutsches Lied- und Kulturgut (Foto: DOCUMERICA/National Archive, USA)

Die Beer Steins pflegen deutsches Lied- und Kulturgut

(Foto: DOCUMERICA/National Archive, USA)

Mag die Sprache der frühen Vorfahren hier nicht mehr sehr lebendig sein, so lassen die Figuren im Glockenturm doch erkennen: Mit dem Pioniergeist der frühen Siedler identifiziert man sich in New Ulm bis zum heutigen Tag. Zugleich ist dies aber der Teil der Stadtgeschichte, dem immer noch Fragen von Schuld und Sühne anhaften. Die Pionierzeit war auch die Zeit der großen Landnahme durch die Siedler, wobei es politisch gesehen um Machtfragen ging. Damit die deutschen Auswanderer das fruchtbare Land in Besitz nehmen konnten, wurden die Native Americans brutal und oft blutig zurückgedrängt und gezwungen, ihre Präriegebiete abzutreten.

Für den Autor Bernd Brunner, der sich intensiv mit der frühen deutschen Massenmigration nach Amerika befasst hat, spiegeln sich in der Begegnung zwischen den deutschen Auswanderern der ersten Generation und der einheimischen Bevölkerung viele rassistische Klischees der damaligen Europäer von den sogenannten „Wilden“ wider. Es sind Bilder, die bis in die Gegenwart fortbestehen, und insbesondere der „Dakota-Krieg“ von 1862 gegen das Volk der Santee-Sioux prägt das Selbstverständnis der deutschen Amerikaner bis heute.

Nach Einschätzung von Darla Gebhardt, die für die Brown County Historical Society in New Ulm die Geschichte der Einwanderer aufarbeitet, hat die damalige Brutalität psychische Wunden gerissen, deren Heilung noch nicht einmal richtig begonnen hat – auf keiner der beiden Seiten. Die Siedler nahmen den Santee-Sioux das Land, das sie Jahrtausende bewohnt hatten. Die wiederum nahmen vielen Siedlern das Leben – und umgekehrt. Nach dem Krieg wurden schließlich die Kinder der Native Americans in Internate gebracht, um ihre angestammte Lebenskultur systematisch zu zerstören.

„Es ist wichtig, hier geboren zu sein“

Es gibt noch viel Unaufgearbeitetes in der Beziehung zu den stets fremd gebliebenen Natives. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum die New Ulmer bis heute lieber unter sich bleiben. „Wir sind hier nicht verschieden, aber wir halten auch nicht daran fest, dass Fremde nicht willkommen sind“, sagt Bürgermeister Bob etwas umständlich, als fühle er sich in Erklärungsnot. New Ulm ist einer der homogensten Siedlungsräume der USA, die als Land ja eigentlich für ethnische Vielfalt und ein Neben- beziehungsweise Miteinander verschiedenster Immigrantengruppen stehen. „Es gibt Menschen, die sind vor 30 Jahren hergezogen und fühlen sich noch immer als Ausländer. Es ist wichtig, hier geboren zu sein“, erklärt Reiseführer Glotzbach.

Damit hat auch Kremena Spengler ihre Erfahrungen gemacht: „Ich kann nicht sagen, dass ich hier zu einer Minderheit zähle, weil ich die Einzige meiner Art bin.“ Die Amerikanerin mit bulgarischen Wurzeln spricht Englisch mit Akzent und arbeitet für die New Ulmer Lokalzeitung „The Journal“. Spengler ist vor 20 Jahren wegen der Liebe in die Stadt gezogen. „Heute bin ich kein Kuriosum mehr, man hat sich an mich gewöhnt“, sagt sie. Aber das habe gedauert.

Hadija Haruna arbeitet als Redakteurin für den Hessischen Rundfunk und als freie Autorin für den „Tagesspiegel“, die „Zeit“ und andere Magazine. Für eine Recherchereise zum Thema Migration war sie im Mai in den USA unterwegs und ist dabei in der Stadt New Ulm gelandet