Im Sommer dieses Jahres saß ich in Russland in einem Zug einer älteren Frau gegenüber. Draußen zog das Land vorbei, in dem ich geboren wurde. Mein Russland? Ich weiß nicht. Das letzte Sonnenlicht fiel seitlich auf das Gesicht der Frau, während sie mir mit giftiger Stimme zuraunte: „Bei uns war alles gut, bis ihr Deutschen mit euren Sanktionen kamt. Ihr habt uns alles kaputt gemacht!“

Da musste ich dann wieder dran denken, dass ich doch auch irgendwie Russe bin oder war oder …

Um die Fakten klarzukriegen: Ich bin 1982 in der Sowjetunion geboren. Meine Mutter kommt aus einer deutschstämmigen Familie, die einstmals auf der Suche nach einem besseren Leben aus Preußen in eine Gegend ausgewandert ist, die in der heutigen Ukraine liegt. Von dort wurde diese Familie einige Generationen später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, sehr blutig vertrieben. Die Überlebenden landeten in Tscheljabinsk im Ural, wo meine Mutter meinen russischen Vater kennenlernte und ich geboren wurde. 1993 wanderten wir nach Deutschland aus.

Meine Großeltern mütterlicherseits und meine Mutter nannten es „Rückkehr“, auch wenn manche von ihnen Deutschland nie zuvor betreten hatten. Für meinen Vater war es eine Reise auf einen anderen Planeten. Für mich als elfjähriges Kind war es ein Abenteuer.

Das Land, aus dem wir fortgingen, hatte eine gespaltene Persönlichkeit. Die Menschen hatten noch die Sowjetzeit in den Knochen, wo weltweite Solidarität mit der Arbeiterklasse propagiert wurde, aber in den Ausweisen neben der „Staatsangehörigkeit“ noch eine „Nationalität“ angegeben wurde. Bei meiner Mutter war diese Nationalität: deutsch. Manche Karrierewege waren damit verbaut.

1993 liefen viele Jugendliche in Russland mit USAT- Shirts umher. Doch auch Nationalpatrioten sammelten sich, die russische Trikolore kam auf. Manche wollten die Sowjetunion zurück, andere den Zaren, viele einfach nur Dollars. Und ich landete in Deutschland, das gerade die Wende und die rassistischen Anschläge von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln verarbeitete. Was und wer deutsch war, schien so recht keiner zu wissen. Such dich mal selbst auf einem Schiff ohne Kompass.

Ich versuchte, mich anzupassen. Allerdings verweigerte ich eine Namensänderung, aus irgendeinem kindlichen Trotz. Ich wollte nicht Nikolas Kerber heißen – Kerber ist der Mädchenname meiner Mutter –, wie mir von einem sicher wohlgesinnten Beamten nahegelegt wurde. Es blieb bei Nikita Afanasjew. Mit diesem Namen machst du nicht einen auf deutsch. Ich kürzte später ab, auf Nik. Klingt auch nicht deutsch, aber etwas weniger fremd. Meine ganz eigene Schizophrenie.

Meine Eltern redeten weiter auf Russisch miteinander, aber nicht normal, zumindest auf der Straße: Sie flüsterten. Ich hasste diesen Flüsterton. Mussten wir uns schämen oder was?

Wir lebten im Ruhrgebiet, ich spielte Fußball. In einer Saison waren 15 von 20 Spielern im Kader Türken. Einer von denen stellte mich mal zur Rede: „Warum bist du Scheißrusse auf Gymnasium? Bist du doch Kanacke!“

Ich selbst verlor nach und nach meinen Akzent und löste mich so als Einwanderer auf. Ich wurde damit nicht einfach Deutscher, das merkte ich in den Du-sprichst-aber-gut-Deutsch- Aussagen von Erwachsenen, in der wenig ausgeprägten Begeisterung von Eltern, wenn sie merkten, mit wem ihre Tochter abhängt. Ich war kein Russe und kein Deutscher und kam in ein Alter, in dem mir das bewusst wurde. Ich wurde – nach meiner selbst gewählten Zuschreibung – Weltbürger.

Als Jugendlicher nötigt einen erst so etwas wie ein Umzug in ein anderes Land, sich über nationale Zugehörigkeit und Identität zu verständigen. Wer einfach nur als Teil der Mehrheitsgesellschaft aufwächst, im Normal-null-Zustand, hat es einfach. Wobei auch ich es mir mit meinem Weltbürgertum einfach machte. Ich wollte nicht dies sein und nicht das, nicht Russe und Deutscher, keine „hybride Identität“, sondern nichts von alledem. Ich war halt jung.

Ironischerweise brachten mich erst die Reisen in jene Welt, in der ich angeblich ja beheimatet war, zu mehr Einsicht. Denn im fernen Ausland wird die eigene Identität nicht mehr so sehr durch Selbstzuschreibung definiert, sondern durch Fremdzuschreibung. In Afrika war ich halt zuallererst Europäer, egal, welche kosmopolitischen Konstrukte ich mir aufgebaut zu haben glaubte. Sich aus der ganzen Identitätsdebatte herauszuhalten erscheint irgendwann nicht mehr clever, sondern feige.

2012, als Putin als Präsident zurückkehrte, beschleunigte sich der neue Ost-West-Konflikt, ich schrieb als Journalist darüber, ich stritt mit meinem Vater über die Krim – mein Geburtsland war wieder da. Mein Mitbewohner sagte mir mal während des Ukraine- Konflikts, als ich ganze Tage mit Debatten darüber zubrachte: „Du kannst den Russen aus Russland holen, aber nicht Russland aus dem Russen.“ Es stimmte schon, aus irgendeinem Grund konnte ich mich der Frage danach, wer ich bin, nicht mehr verweigern.

Im Frühjahr 2016 machte mich der Osten dann zum ersten Mal ultimativ zum Deutschen. Ich war für eine Reportage in Tschernobyl, unweit des havarierten Kraftwerks. Dort lebte ein Einsiedler, der bereit war, mit Journalisten zu reden, nur Deutsche würde er leider hassen. Weltkriegserfahrung, da könne man nichts machen, erklärte mein Kontaktmann vor Ort. Ich schaute daraufhin bedauernd zu dem deutschen Fotografen, der mit dabei war, da er wohl leider draußen bleiben musste, bis mein Kontaktmann mich aufhielt und sagte: „Du verstehst nicht. Du kannst nicht mit.“

Ich spreche Russisch ohne Akzent, in der globalisierten Welt tragen alle die gleichen Klamotten und Frisuren, aber … trotzdem bin ich nicht mehr im Club.

Ich fuhr in diesem Sommer lange durch Russland. Nicht nur die Erfahrung mit der Frau im Zug, die mich als „Deutschen“ ja indirekt für ihr schweres Leben verantwortlich machte, ließ mich etwas germanisiert zurück. In Deutschland sagen mir Freunde, wenn ich mich im Auto nicht anschnalle: „Ja, bist halt Russe.“ In Russland hoffte ich nun in dieser Frage auf lauter Gleichgesinnte. Endlich. Und sah dann, dass auch Kleinkinder regelmäßig nicht angeschnallt werden.

Einmal wies ich einen Mann darauf hin, dass unser Auto so gut wie kein Reifenprofil und mehr oder weniger keine Bremsen hat, vielleicht sollte er seinen einjährigen Sohn auf dieser regennassen Straße doch lieber … Er war sehr irritiert, schüttelte nur seinen Kopf und sagte: „Diese Deutschen!“

Am meisten aber werde ich zum Westler, wenn ich die deutsche Flüchtlingspolitik oder allgemein eine freiheitliche Gesellschaft verteidige. In Deutschland wird oft kritisiert, dass Menschen nicht per eigener Entscheidung zu Einheimischen werden können. Im Gegensatz zu den USA, wo das Bekenntnis zu Land und Verfassung ausreicht, um in den Augen der USAmerikaner zu ihnen zu gehören. In Russland aber funktioniert diese Sache mit der eigenen Entscheidung zumindest in Negativform: Wer nicht für die aktuell vom Kreml verfolgte Politik ist, ist draußen.

Es war angenehmer, sich gar nicht zu der Frage nach der nationalen Identität zu verhalten, nichts zu sein und damit alles. Heute mache ich das nicht mehr. Wenn ich mich auf eine Formel festlegen will, selbst zugeschrieben, dann lautet sie: deutscher Weltbürger russischer Herkunft. Klingt jetzt auch nicht einfach. Muss es aber auch nicht.