Ziemlich genau ein Jahr nach dem Zusammenbruch der Investmentbank »Lehman Brothers« nahm der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy in der altehrwürdigen Pariser Sorbonne ein Papier in Empfang, dessen Titel wenig revolutionär klingt: »Bericht der Kommission über die Messung der wirtschaftlichen Leistungskraft und des sozialen Fortschritts.« Doch das 300-Seiten-Werk hat es in sich. Wenn seine Schlussfolgerungen weltweit umgesetzt werden, wird sich der Blick auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und dem tatsächlichen Wohlstand der Menschen grundlegend ändern. Das »Bruttoinlandsprodukt« (BIP), also die Gesamtheit aller innerhalb eines Jahres hergestellten Waren und erbrachten Dienstleistungen einer Volkswirtschaft hätte dann als maßgeblicher Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft ausgedient.

Weil Sarkozy dem »Kult« dieser Zahl entkommen will, beauftragte er drei der prominentesten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart, eine alternative Messmethode zu entwickeln: Die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (Columbia University) und Amartya Sen (Harvard) sowie den Chef des französischen Wirtschaftsforschungsinstituts »Observatoire Français des Conjonctures Economiques« (OFCE) Jean-Paul Fitoussi. Der zentrale Gedanke, den 30 Experten unter Leitung der drei Starökonomen entwickelten: Künftig soll der Reichtum einer Nation dadurch bestimmt werden, dass man erheblich genauer als bisher das reale »Wohlbefinden« der Bevölkerung misst und nicht allein die wirtschaftliche Leistungskraft der Volkswirtschaft. Anstelle des Bruttoinlandsproduktes (BIP) soll künftig ein aussagekräftigeres »Nettoinlandsprodukt« (NIP) berechnet werden.Das Problem mit dem BIP ist nämlich, dass es zwar Auskunft darüber geben kann, ob eine Volkswirtschaft statistisch gesund ist, über das Wohlbefinden eines Volkes sagt es jedoch wenig aus.

Ein klassisches Beispiel für die Blindheit der Wirtschaftsstatistik sind Naturkatastrophen. Nach großen Desastern wie etwa dem Tsunami in Südostasien folgt meist eine Welle staatlicher und internationaler Hilfen, wodurch das Wirtschaftswachstum sprunghaft ansteigt. Das Wohlbefinden der betroffenen Menschen aber eher nicht.

Ein anderer Nachteil an den traditionellen Berechnungsmethoden: Sie ignorieren die immer wichtiger werdende Frage der Nachhaltigkeit. So schlägt sich etwa der Bau von Autobahnen, Kraft- werken oder Staudämmen in der Statistik bloß un- differenziert als »Wachstum« nieder, die langfristigen Folgekosten durch Umweltschäden tauchen kaum auf. Und jede Form von »Arbeit«, die nicht auf dem Markt entgolten wird – Kindeserziehung, Pflege von Verwandten, ehrenamtliche Tätigkeiten, wird durch das BIP überhaupt nicht erfasst – ist aber für das Wohlergehen einer Gesellschaft ungeheuer wichtig. »Die Zeit ist reif dafür, dass sich unser Messsystem mehr mit dem Wohl- ergehen der Menschen als mit wirtschaftlicher Produktivität befasst« – so das Fazit von Stiglitz, Sen und Fitoussi.

Im Gegensatz zu traditionellen Wirtschaftswissenschaften hat die ökonomische Glücksforschung immer wieder darauf hingewiesen, dass ab einem bestimmten ökonomischen Mindestniveau die Zufriedenheit und Lebensqualität der Menschen nicht mehr automatisch mit dem wirtschaftlichen Wachstum ansteigt. Frankreichs Präsident Sarkozy hat das französische nationale Statistikinstitut IN- SEE bereits angewiesen, die Vorschläge der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Dennoch wird auch die INSEE weiterhin das Bruttoinlandsprodukt be- rechnen, da dies nach wie vor die Größe ist, nach der Wohlstand international bemessen wird.

Für eine fundamentale Änderung muss sich die neue Sicht auf das Glück einer Gesellschaft aber erst einmal international durchsetzen. In Deutschland immerhin hat Sarkozys Vorstoß eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Ein Anfang, Wachstum nicht als Selbstzweck zu sehen, ist auch hier gemacht.