Der Architekt Volkwin Marg ist selten in Stadien anzutreffen. Er baut sie nur gern. Ein Gespräch über Brot, Spiele und Symbolsprache.

Herr Marg, gehen Sie gern ins Stadion?

Volkwin Marg: Ich gehe nur mit meinem Enkel ins Fußballstadion, der ist Fan des Hamburger SV. Ich persönlich bin kein Mensch, der sich gern der Masse ausliefert.

Ihr Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner baut aber gerade 13 Stadien. Wie passt das zusammen?

Stadien sind die öffentlichsten Räume, die man sich vorstellen kann. Was man als Architekt da entwirft, ist eine Choreografie für große Menschenmengen – so wie ein Bühnenbildner, der eine Szenerie für einen Massenauftritt plant. Das ist eine faszinierende Sache – allerdings bin ich mir auch darüber im Klaren, dass das eine hochpolitische Aufgabe ist. Denn Stadien sollen die Massen manipulieren.

Sie hatten sich auch für den Bau des Olympiastadions in Peking beworben, der Auftrag ging jedoch an die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron. Werden in Peking auch die Massen manipuliert?

Natürlich. Und wenn man sich die Entwicklung in China heute anguckt, kann sich jeder denken, warum.

Warum haben Sie sich trotzdem für den Bau beworben?

Die Öffnung eines Landes zu fördern ist eine Herausforderung. Wir hatten ein Dach entworfen, das sich wie eine Lotusblume öffnet. Es sollte das neue, sich öffnende China symbolisieren. Letztlich haben die Architekten Herzog & de Meuron mit einem Stadion gewonnen, das wie ein Vogelnest aussieht. Mit einer Metapher. Ein poetisches Bild, das für ein harmonisches Miteinander steht. Aber es eignet sich natürlich auch, um von Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Auch Architektur ist manipulierbar.

Wenn Stadien dazu da sind, Menschen zu manipulieren, sollte man sie vielleicht am besten nicht mehr bauen?

Doch, denn sie dienen im marxistischen Sinne als sogenannter Überbau einer Gesellschaft zum Selbsterhalt. Die Menschen wollen ja in diese Stadien gehen. Sie suchen das Gemeinschaftserlebnis. Aber ich bin mir bewusst, dass man sie missbrauchen kann. Das war ja auch schon vor mehr als 2700 Jahren so.

Sie spielen auf die Sportstätten der alten Griechen an...

Die Olympischen Spiele dienten dazu, junge Männer für den Krieg zu ertüchtigen. Laufen, Fechten, Bogenschießen, Boxen – das sind ja paramilitärische Sportarten. Später haben die Römer das Stadion dazu benutzt, das Volk in den großen Metropolen ruhig zu halten – mit Brot und Spielen. Es gab Gladiatorenkämpfe, Raubtiervorführungen. Einige Stadien konnte man sogar fluten und darin Seeschlachten aufführen. Damals haben die Herrscher dafür bezahlt, die Massen abzulenken. Heute ist man da weiter: Die Menschen zahlen für ihren Besuch selbst.

Zumindest in der westlichen Welt gibt es aber keinen Herrscher mehr, der die Massen manipulieren könnte.

Aber es gibt die Unterhaltungsindustrie. Der Sport dient heute dazu, Geld zu verdienen. Die Sportler, das Publikum – alle sind nur Katalysatoren für eine erfolgreiche Werbevermarktung. Man baut ein Stadion, beleuchtet es rot oder blau, und am Ende steht „Allianz“ drauf. Das ist die größte Litfaßsäule der Welt.

Sie meinen die Allianz Arena in München – eines der neuen Fußballstadien, die Sie einmal „Hysterieschüsseln“ genannt haben. Was meinen Sie damit?

Waren Sie schon mal in der „Arena Auf Schalke“? Der Lärm ist so ohrenbetäubend, dass die Spieler manchmal den Pfiff des Schiedsrichters nicht mehr hören können. Oder denken Sie an München, Frankfurt oder Köln: steile, geschlossene Ränge, direkt ans Spielfeld gebaut. Die akustische Wucht und die Enge führen dazu, dass ich mich als Individuum vergesse. Der Mensch soll sich an der Masse berauschen und in ihr aufgehen. Gleichzeitig sortieren die neuen Stadien die Zuschauer nach Klassen.

Ist das wirklich neu? Unterschiedliche Ticketpreise gab es früher doch auch. 

Aber heute unterscheiden sich die Plätze nicht mehr nur danach, welchen Blick man aufs Spielfeld hat. In den VIP-Logen gibt es Teppiche und Sessel, die Gäste schlürfen Sekt und schaufeln Kaviar. Die anderen kriegen Pappbecher und alkoholfreies Bier. Über Generationen haben wir von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geredet, aber jetzt wird von der Unterhaltungsindustrie wieder klassenteilend inszeniert. Die VIP-Logen liegen übrigens immer auf der Westseite.

Warum ist das so?

Diese Tradition stammt aus dem 19. Jahrhundert. In England saß die Oberschicht auf der Westseite, weil sie dort Wind und Regen nicht im Gesicht, sondern im Rücken hatte. Heute sind die Stadien überdacht, aber die Logen liegen trotzdem auf der Westseite. Die oberen Zehntausend wollen sich nicht mit dem Volk gemein machen. Sie müssen einmal darauf achten: Wenn die La-Ola-Welle durchs Stadion schwappt, ist sie bei den Businessplätzen oft unterbrochen. Und dann gehen die Pöbeleien unter den Verbraucherklassen los.

Und Emotion schlägt oft in Aggression um. Ist Gewalt in diesen Stadien eine größere Gefahr als in anderen?

Bei gezielt entfesselten Emotionen schon, aber das kann bei Massenveranstaltungen immer passieren. Ich finde es faszinierend, Stadien zu bauen, aber es ist eben so, dass wir mit Dynamit spielen. In der Commerzbank Arena zum Beispiel, die ich mit unserem Team in Frankfurt gebaut habe, finden sich Einbauten, die jedem größeren Polizeipräsidium Ehre machen würden. Da kann man die Unruhestifter sogar anketten. Oder Sie müssen sich einmal das De-Geusselt-Stadion in Maastricht ansehen. Da gehen die Gästefans außen bereits durch einen vierzig Meter langen Tigergang, damit die Heimfans sie nicht verhauen.

Warum setzen wir uns so einem Erlebnis aus?

Ich würde es ganz deftig formulieren: Der Mensch ist genetisch immer noch der alte Affe – ein Hordentier. Der Mensch liebt das Bad in der Menge, und manchmal will er darin auch bis zur Besinnungslosigkeit ersaufen. Denken Sie zum Beispiel an den Berliner Sportpalast, in dem Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels 1943 geschrien hat: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Das war die Zeit, als ich als Kind die Massen zum ersten Mal schreiend kennenlernte – über das Radio, das man damals „Goebbelsschnauze“ nannte.

Anlässlich der Weltmeisterschaft 2006 haben Sie und Ihre Kollegen das Olympiastadion in Berlin umgebaut, in dem die Nationalsozialisten die Olympischen Spiele von 1936 gefeiert haben.

Die Nationalsozialisten haben eine archaische, antikisierende Formensprache benutzt – sehr ge-waltig, sehr pathetisch. Die Welt war damals begeistert, aber die meisten haben die Inszenierung nicht durchschaut. Das Stadion öffnet sich auf den Glockenturm zur Langemarckhalle hin, die an die 50000 jungen Gefallenen der Schlacht von Langemarck erinnert. Die Botschaft war: Ich rufe die Jugend der Welt. Wohin? Zum Massengrab.

Diese Halle haben Sie in ein Museum verwandelt und darüber hinaus ins Stadion eine Kapelle eingefügt.

Das Museum soll den Menschen die Möglichkeit geben, sich mit der politischen Geschichte des Stadions auseinanderzusetzen. Es ist eine großartige Monumental-Architektur, aber die Nazis haben sie für ihre Zwecke inszenieren lassen und sie missbraucht. Dagegen ist die Kapelle ein Ort, an dem der Einzelne der Masse entfliehen und zu sich selbst kommen kann. Ich habe sie unter die alte Führerloge gebaut. Es ist eine kleine Geste, die ich mir gegönnt habe – ein Appell an das Indivi-duum, sich vom Sog der Massen zuweilen frei zu machen und zu sich selbst zu kommen.

Wird die Kapelle denn auch genutzt?

Ja, natürlich, vor allem für Hochzeiten oder Taufen. Vor dem Finale zwischen Italien und Frank-reich saß auch ein italienischer Spieler in der Kapelle und hat gebetet. Aber ich sage jetzt nicht, dass seine Gebete erhört wurden. Das würde ja bedeuten, dass Gott der Schiedsrichter war.

Volkwin Marg, 71, gehört dem Hamburger Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner an. Sein Entwurf für das Pekinger Olympiastadion (unten) wurde zwar nicht angenommen, dafür baut er nun drei Stadien für die FußballWM 2010 in Südafrika.