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Sollten Kitas gratis sein?

Berlin hat als erstes Bundesland die Kita-Gebühren komplett abgeschafft.
 Andere Bundesländer wollen nun nachziehen. Ist das sinnvoll?

Zwei Personen kämpfen auf einem Spielplatz über die Abschaffung der Kita-Gebühren

Abschaffen! Nur so haben alle Kinder die gleichen Bildungschancen

Der Staat sollte mehr Geld in Kindertagesstätten stecken, findet Ralf Pauli – und dabei bitte nicht das Personal vergessen

Für das Bildungsland Deutschland sollten kostenlose Krippen, Kindergärten, Schulen und Hochschulen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Sie ermöglichen jeder und jedem Einzelnen gesellschaftlichen Aufstieg und eine freie Berufswahl – egal ob die Eltern reich oder arm, Professoren oder Leiharbeiter, Bürger mit deutscher oder einer anderen Staatsbürgerschaft sind. Von dem hohen Bildungsgrad einer Nation wiederum profitiert die gesamte Gesellschaft. Klingt unstrittig, ist es aber nicht.

Als Berlin vor kurzem als erstes Bundesland die Kita-Beiträge komplett abschaffte, hagelte es von allen Seiten Kritik: von Eltern, die beklagten, dass das Problem fehlender Kitaplätze dadurch nicht gelöst würde. Von Bildungsforschern, die die Qualität der Einrichtungen bemängelten. Von Gewerkschaften, die schon zuvor von Überlastung und Lohndumping bei Erziehern sprachen. Und von Politikern, die dem rot-rot-grünen Senat vorwarfen, unnötige Geschenke an Besserverdiener zu verteilen. Der Tenor: Es sei unverantwortlich, auf Einnahmen zu verzichten, wenn das Geld doch sowieso schon an allen Ecken und Enden fehle.

Kita-Gebühren bundesweit abzuschaffen würde 15 Mrd. Euro kosten – die wären gut investiert

Zehn Bundesländer haben mittlerweile Entlastungen bei den Kita-Gebühren beschlossen. Auch die Bundesregierung unterstützt das Ziel einer beitragsfreien Kita. Würden alle Bundesländer auf die gegenwärtigen Einnahmen verzichten und außerdem der Qualitätsausbau in den Bereichen Personalschlüssel, Leitungsausstattung und Mittagessen stattfinden, müsste der Staat einer Schätzung der Bertelsmann-Stiftung zufolge pro Jahr dafür mehr als 15 Milliarden Euro aufbringen. Und die wären gut investiert.

Der gewichtigste Grund dafür ist die Chancengerechtigkeit. Kitas kosten je nach Bundesland, Ort und Träger unterschiedlich viel. Ganz schön unfair. Oder wie ist es zu rechtfertigen, dass Kita-Beiträge zahlende Eltern in Schleswig-Holstein im Schnitt fast neun Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens für die Betreuung berappen sollen, während es in Hamburg nur gut vier Prozent sind? In Mecklenburg-Vorpommern zahlen manche Familien für die Kinderbetreuung über ein Fünftel ihres Einkommens. Zwar sind die Gebühren in den meisten Fällen nach Einkommen gestaffelt – arme Familien werden durch die Beiträge dennoch stärker belastet, wie die Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt: Gemessen am Einkommen müssen sie einen deutlich höheren Anteil für die Kinderbetreuung ausgeben als Besserverdiener.

Für Kinder, die zu Hause wenig gefördert werden, ist die Kita besonders wichtig

Außerdem sind sich die meisten Bildungsexperten einig: Die frühkindliche Erziehung ist ein wirksames Instrument gegen Bildungsungerechtigkeit. Noch immer schaffen es Kinder aus Akademikerfamilien eher an eine Universität als Kinder mit Nichtakademiker-Eltern. Ähnliches gilt für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Eine kostenlose Kita verhindert, dass Kinder, die zu Hause eine geringere Förderung oder Fürsorge erhalten, schon beim Schulstart abgehängt sind. Das hat drastische Auswirkungen, schließlich werden schon in der Grundschule die Weichen für die spätere „Bildungskarriere“ der Kinder gestellt.

Überhaupt hätte das Modell „Eine Kita für alle“ eine wichtige soziale Funktion. Wer seinem Sprössling schon in jungen Jahren vorlebt, dass besondere Angebote – mehrsprachige Betreuung oder Babyyoga – nur für diejenigen zugänglich sind, die es sich leisten können, erzieht Kinder in einem sehr kapitalistischen Verständnis von Gesellschaft: Nicht das eigene Engagement öffnet Türen, sondern das Geld der Eltern.

Es ist Aufgabe des Staates, allen Bürgern einen guten Start zu ermöglichen. Deswegen ist es richtig, dass es seit fünf Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gibt. Dass zwischen 2006 und 2017 allein für Kleinkinder bis drei Jahre 475.000 neue Krippenplätze geschaffen wurden. Und dass dadurch inzwischen 61,9 Prozent aller Zweijährigen tagesbetreut werden. 2006 waren es gerade mal 26,6 Prozent. Wären alle Kitas kostenfrei – der Anteil würde sicher weiter steigen. Und damit die Bildungschancen armer Kinder.

Niemand braucht sich wundern, dass Betreuungspersonal fehlt – bei den Gehältern!

Natürlich muss dafür die Qualität der Kitas stimmen. Und die genügt trotz deutlicher Verbesserungen etwa bei der Betreuungsquote immer noch nicht überall den Ansprüchen. So kommen bei Kleinkindern unter drei Jahren statt der empfohlenen drei im Schnitt auf jeden Erzieher immer noch 4,3 Kinder.

Ein anderes gravierendes Problem ist der Fachkräftemangel: Bis 2025 werden 300.000 Erzieherinnen fehlen, warnen Bildungsforscher im Nationalen Bildungsbericht 2018. Da sollte sich die Gesellschaft fragen: Sind Erzieher vielleicht unterbezahlt? In Berlin werden gerade mal die 13 Prozent des Kita-Personals in staatlicher Trägerschaft nach Tarif bezahlt, bei den weitaus mehr freien Trägern verdienen die Angestellten oft weitaus weniger. Da muss sich niemand wundern, wenn Fachpersonal fehlt und viele Eltern auf der Suche nach einem Kitaplatz verzweifeln.

Nur spricht keiner dieser Kritikpunkte gegen eine Beitragsbefreiung. Sondern dafür, dass der Staat noch mehr Geld in Kindertagesstätten stecken sollte als die soeben geplanten 5,5 Milliarden Euro bis 2022. Das Schöne daran? Er könnte es sogar: Gerade konnte der Fiskus für das erste Halbjahr einen Rekordüberschuss von 48 Milliarden Euro vermelden. Dieses Geld in kostenlose Kitas und besser bezahltes Personal zu stecken wäre eine Investition in die Zukunft.

Ralf Pauli ist Bildungsredakteur der taz. An seine eigene Kitazeit hat er keine Erinnerung. Aber daran, dass seine türkischen Mitschüler früh von unserem Bildungssystem ausgesiebt wurden. Eine kostenlose Kita für alle hätte das vielleicht verhindert. 

Collagen: Renke Brandt  

 Behalten! Kostenlose Kitas sind bestenfalls harmlos, schlimmstenfalls schädlich

Birgitta vom Lehn fragt: Sollte man so viel Geld in Einrichtungen stecken, deren positive Wirkung noch überhaupt nicht bewiesen ist?

Die beitragsfreie Kita appelliert an das Schnäppchen-Gen. Natürlich ist es richtig und gut, Familien mehr Geld in der Tasche zu lassen. Das Problem ist: So einfach geht die Rechnung nicht auf.

Wenn ein Bundesland die beitragsfreie Betreuung beschließt, so wie es zum Beispiel im Sommer Niedersachsen für Kinder ab drei Jahren gemacht hat, die Kommunen aber für die Mehrausgaben nicht aufkommen können oder wollen, wenden letztere oft einen simplen Taschenspielertrick an: Sie streichen zwar die Gebühren für Kindergarten-, erhöhen aber die für Krippenplätze. Folglich zahlen Familien mit mehreren Kleinkindern in etlichen Kommunen jetzt nicht weniger, sondern genauso viel wie vorher, wenn sie Krippe (U3) und Kindergarten (Ü3) in Anspruch nehmen.

Gratiskitas könnten die soziale Separierung noch verstärken

Kitas freier Träger, wie zum Beispiel Einrichtungen von Elterninitiativen oder Betriebskitas, sind von der Beitragsfreiheit ausgenommen. Wer also hofft, mit der Gratiskultur der sozialen Separierung vorzubeugen, freut sich zu früh. Das Gegenteil könnte der Fall sein: Niemand glaubt, dass mit der Gebührenfreiheit automatisch die Qualität der Kitas steigen wird. Bildungsbeflissene Eltern, beziehungsweise jene, die es sich eben leisten können, werden wohl künftig noch genauer auf das „Gute-Kita-Gesetz“ achten und schauen, ob die Verpackung wirklich hält, was sie verspricht. Im Zweifel legt man halt noch etwas mehr aus eigener Tasche drauf und zahlt den teuren Privatkindergarten selbst.

Dafür sollte man sie nicht verurteilen. Wer würde seine Kinder nicht auch lieber in individuellen Kleingruppen mit verlässlichen, entspannten Erzieherinnen betreut wissen als in überfüllten, personell chronisch unterbesetzten Kitas? Bindung und Beziehung, Nähe und Wärme, Liebe und Zuwendung sind die wichtigsten Elemente für einen guten Start ins Leben und auch für die spätere Bildungskarriere.

Um alle Kitas kindgerecht zu gestalten, müsste man sehr viel Geld in die Hand nehmen

Man müsste die Gruppen verkleinern, die Erzieherinnen besser bezahlen und den hohen Lärmpegel durch schlaue Bauweisen der Einrichtungen senken. Aber wie viel Geld müsste man dafür in die Einrichtungen pumpen? Und, so unpopulär diese Frage auch sein mag: Sollte man so viel Geld in Einrichtungen stecken, deren positive Wirkung noch überhaupt nicht bewiesen ist?

Wie Krippen und Kitas auf die Entwicklung von Kindern wirken, ist wissenschaftlich umstritten. Es ist weder belegt, dass die Kostenloskultur sozial benachteiligten Kindern auf die Sprünge hilft, noch, dass ein früher und langer Krippen- oder Kita-Besuch förderlich ist. Günstige Effekte konnten bisher einzig für Kinder mit Migrationshintergrund nachgewiesen werden.

Für alle anderen Kinder dominieren keine oder sogar negative Effekte: Bei der in Deutschland durchgeführten „Nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ zeigten zwei- bis vierjährige Kinder keine nennenswerten bildungs- und entwicklungsmäßigen Unterschiede zwischen familiärer und außerfamiliärer Betreuung.

Dabei ist umstritten, wie Kitas überhaupt auf die Entwicklung von Kindern wirken

Ihr Bildungs- und Entwicklungsstand hinge stärker mit Merkmalen der Familie als mit der Betreuungsart zusammen, betonten die Forscher. Damit fiele die Vorstellung, Krippen und Kitas könnten für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Kinder, die schon im ersten Lebensjahr außerfamiliär betreut wurden, zeigten außerdem häufiger Problemverhalten. Eine kanadische Studie kam zu ähnlichen Ergebnissen: Bei den Kita-Kindern kam es zu mehr Hyperaktivität, Aggressivität, Infektionen und Unaufmerksamkeit – bei den Müttern sogar zu größerer Beziehungsunzufriedenheit; die Väter wurden in der Studie nicht erwähnt.

Eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Zehn-Jahres-Längsschnittstudie zeigt den „überraschenden und deutlichen Effekt“, dass Kita-Betreuung im Vergleich zur elterlichen Betreuung speziell bei Kindern Alleinerziehender im Jugendalter zu mehr Verhaltensauffälligkeiten führt. Je früher die Kinder fremdbetreut wurden, desto eher waren sie psychisch auffällig, schreiben die Studienautoren Wolfgang Schulz und Nele Wulfes im jüngst erschienenen Sammelband „Schadet die Kinderkrippe meinem Kind?“. Derartige Warnungen von Experten gibt es inzwischen zuhauf, man will sie aber nicht hören.

Besser wäre es, Eltern finanziell stärker zu unterstützen und selbst entscheiden zu lassen

Krippen und Kitas mögen bequem für Eltern sein und lukrativ für den Staat: Je früher junge Eltern in den Beruf zurückkehren, desto mehr Steuern zahlen sie schließlich. Für Kinder sind Kitas aber bestenfalls harmlos, schlimmstenfalls schädlich. Deshalb sollte der Staat Krippen nicht mir nichts, dir nichts und ohne Qualitätskontrolle kostenlos für alle anbieten. Denn dies signalisiert: Sie sind für die Kinder das Beste. Wohlmeinender und vorausschauender wäre es, die Familien bei der Entscheidung finanziell zu unterstützen, die sie für die Betreuung ihres Nachwuchses treffen. Etwa indem man Eltern die 1.000 Euro, die ein Krippenplatz pro Monat allein an Betriebskosten verschlingt, direkt ausbezahlt. So können diese frei entscheiden, wo und wie sie ihre Kinder am liebsten und besten betreut sehen: in der Krippe, im Kindergarten oder zu Hause.

Birgitta vom Lehn arbeitet seit einem Vierteljahrhundert als freie Journalistin und Buchautorin. Quasi nebenbei hat sie zusammen mit ihrem Mann drei Söhne großgezogen – und zwar krippenlos. Soziale oder intellektuelle Defizite zeigen die drei bis heute keine.

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