Es sind nur wenige Stunden, in denen aus einer aufregenden sexuellen Begegnung eine Vergewaltigung und ein Mordversuch entstehen. Es sind nur wenige Minuten, in denen Begehren und Leidenschaft in Wut und Gewalt umschlagen.

Das Drama trägt sich an einem Weihnachtsabend zu. Édouard Louis, ein gefeierter junger Schriftsteller aus Frankreich, ist auf dem Weg nach Hause, als er Reda auf dem Place de la République begegnet. Reda verwickelt ihn ins Gespräch – flirtet ihn offensiv an. Zunächst wiegelt Louis ab, will nach Hause. Doch dann übermannt ihn seine sexuelle Erregung. Er nimmt den Unbekannten mit zu sich in die Wohnung. Sie lieben sich mehrmals, reden über Freunde und Familie. Reda erzählt von seinem Vater, der als junger Mann aus Algerien nach Frankreich migriert ist. Als sie sich zum Abschied umarmen, bemerkt Louis sein iPad in der Manteltasche seines Lovers. Als er ihn zur Rede stellt, rastet dieser aus, würgt ihn und vergewaltigt ihn schließlich.

Putzen bis die Finger bluten

Seine Geschichte erzählt Louis nicht der Reihe nach, sondern in Bruchstücken, im Wechsel verschiedener Zeitebenen und mit unterschiedlichen Erzählerstimmen. So beginnt der Roman nicht auf dem Place de la République, sondern mit dem Morgen danach. Louis beschreibt, wie er akribisch sein Zimmer reinigt, wie er sein Bettzeug mehrfach wäscht und den Boden schrubbt, bis ihm die Finger bluten. Wie er das Gefühl hat, dass alles in seinem Zimmer nach dem Vergewaltiger riecht, sein Körper den Geruch aufgesogen hat.

Erst viel später erfährt man, was sich in der Nacht zuvor ereignet hat. Immer wieder springt Louis in die traumatischen Ereignisse der Nacht zurück, arbeitet das Erlebte in Flashbacks auf. Als die Erzählstimme von der Ich-Perspektive zu seiner Schwester wechselt, die die Geschichte ihrem Mann schildert, wird auch Louis’ Kindheit thematisiert und seine eigene Verwicklung in Lügen, Diebstahl und Gewalt als Jugendlicher.

Wie umgehen mit der Erniedrigung?

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Im Herzen der Gewalt

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Fischer, Frankfurt/Main 2017, 20 Euro.

Die Geschichte ist beklemmend. Édouard Louis legt in seinem autobiografischen Roman alle seine Gedanken und Gefühle über das Erlebte offen. Sein Versuch, einen Umgang mit der Erniedrigung zu finden, ist noch viel brutaler und schmerzhafter zu lesen als die Vergewaltigung selbst. Wer schon mal körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt war, kennt viele der Fragen, die sich Louis stellt: Wann werde ich endlich aufhören, daran zu denken? Was wäre gewesen, wenn ich an diesem Abend etwas später von meinem Abendessen losgegangen wäre? Habe ich falsch gehandelt?

In diesem Kontext analysiert Louis jede Emotion detailliert auf beinahe sozialwissenschaftliche Weise. Er untersucht klassistische, heteronormative und ethnische Machthierarchien und vergleicht Redas Position in der französischen Gesellschaft mit seiner eigenen. Er thematisiert das rassistische Verhalten der Polizisten, die seine Anzeige aufnehmen und immer wieder herausstreichen wollen, dass es sich bei dem Aggressor um einen Mann arabischer Abstammung handelt. Nur die eigene rassistische Verwicklung in diese Strukturen thematisiert Louis erst fast am Ende seines Romans: „Der Rassismus, also das, was ich immer als das meinem Wesen radikal Entgegensetzte empfunden hatte, das absolut Andere meiner selbst, erfüllte mich unvermittelt, ich war die anderen geworden.“ Er beschreibt, wie er auf der Straße den Kopf senkt, wenn ihm ein Araber oder ein Schwarzer begegnet. Und dass ihn eine nicht gekannte Angst erfüllt, die Männer könnten ihm etwas antun.

Das Vorurteil lauert überall

Damit erkennt er seine Verwicklung in ein rassistisches Machtgefüge zwar an, er verortet sich selbst aber nicht innerhalb eines strukturellen Rassismus, sondern sieht die Vergewaltigung als Auslöser für seine Denkweise. Auch wenn Louis seine Angst verurteilt, diskutiert er sie nicht als etwas, das schon immer in ihm war, sondern als etwas Neues, dass er durch den Gewaltakt eines arabisch aussehenden Mannes entwickelt hätte.

Das Vorurteil lauert also überall. Nicht nur in der Provinz, aus deren sozialer Enge der Arbeiterjunge einst geflohen ist und darüber den gefeierten und ebenfalls autobiografischen Roman „Das Ende von Eddy“ geschrieben hat, sondern auch in der akademischen Blase von Paris, in der sich der heute 25-Jährige vorwiegend in der Gesellschaft weißer Männer bewegt. Das macht Louis’ schonungsloses Ringen mit der eigenen Paranoia eindringlich deutlich.

Titelbild: Frederic Stucin