Für die Revolution hat Wolfram Siener einen Monat lang nicht geduscht. Gegessen hat er einmal täglich. Es gab ja Wichtigeres. Siener war 20 und unzufrieden, er hatte keinen Job, aber Lust auf Protest, als er im Occupy-Camp vor der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt ankam. Das war vor fünf Jahren, im Herbst 2011, als die Occupy-Bewegung weltweit in fast 1.000 Städten wütende junge Menschen auf die Straße brachte. Weil er gut reden kann, wurde Wolfram Siener interviewt, er diskutierte mit Politikern in Talkshows, Journalisten porträtierten ihn als „Hoffnungsträger der Generation Occupy“. Der junge Mann mit den krausen Locken repräsentierte die Bewegung in Deutschland.

Heute sitzt Siener in seinem Frankfurter WG-Zimmer unterm Dach und dreht sich alle zehn Minuten eine Zigarette. „Alle Leute, die sich nicht rechtzeitig distanziert haben, haben extrem gelitten“, sagt der 25-Jährige heute. Aktivisten wie Siener, denen die Bewegung wichtig war, harrten monatelang im Zeltlager aus. Einige verloren ihre Anstellung, manche auch ihre Wohnung, Beziehungen gingen in die Brüche. Abgemagert zog Wolfram Siener nach der Camp-Auflösung zurück zu seiner Mutter. Mit Occupy hat Siener nichts mehr zu tun, auch nicht mit anderen Protestbewegungen oder Politik. Zwar ist er noch immer unzufrieden, doch momentan hat er ein anderes Ziel: Er nimmt sich ein Jahr Auszeit von seiner Tätigkeit als Programmierer und trainiert für eine E-Sports-Karriere. „Ich muss einfach auch mal etwas für mich tun“, sagt Siener.

„Wir sind die 99 Prozent!“, schrien zuerst ein paar hundert junge Leute an der Wall Street. Sie begannen im September 2011, aus Protest gegen die Rolle, die die Wall Street in der Entwicklung der Finanzkrise gespielt hat, die letztlich die größte Rezession seit Jahrzehnten ausgelöst hat, im nahen Zuccottipark ihre Zelte aufzuschlagen. Es sollte, inspiriert vom Arabischen Frühling, der „Tahrir-Moment“ der USA werden. Nicht nur Menschen aus US-amerikanischen Städten schlossen sich an, sondern bald aus Ländern der ganzen Welt: Auch in Armenien, Südafrika und Südkorea fanden sich Occupy-Anhänger. Für viele war die Bewegung ein politisches Wunder. Dabei waren Bauarbeiter, Professoren, Studenten, Rentner, Menschen verschiedener Religionen, Gesinnungen und Nationalitäten – und einige bekannte Persönlichkeiten: der New Yorker Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, die Mode-Ikone Vivienne Westwood, die Globalisierungskritikerin Naomi Klein.

Occupy als Chance, den Kasino-Kapitalismus zu ändern

Wilhelm Decker wird melancholisch, wenn er an Occupy denkt. „Wir haben die Bewegung gefeiert“, sagt er. Lange hat der Berliner vor dem Bundeskanzleramt mitgezeltet, für Demonstranten gekocht und mit einer Künstlerin bunt bemalte Regenschirme in der Stadt ausgestellt – als Symbol dafür, dass es „Menschenrettungsschirme“ statt Bankenrettungsschirme braucht. Decker war frustriert von seinem Job in der Gastronomie, er arbeitete viel für wenig Geld, hatte kaum Aufstiegschancen oder soziale Absicherung. Als Occupy losging, sah er eine Chance, den „Kasino-Kapitalismus zu ändern“ und damit vielleicht auch etwas in seinem eigenen Leben zu verbessern. Und heute? Decker ist zwar raus aus der Gastronomie, aber nun Arbeitslosengeld-Empfänger. Als 29-Jähriger habe er wenig Perspektiven auf Umschulungen, glaubt er.

Solche Sorgen hat Elliot Fieldhouse nicht. Er arbeitet heute als Veranstalter und Tontechniker. Fieldhouse war 17 und studierte, als er in London für Occupy auf die Straße ging, maskiert mit Guy-Fawkes-Maske, dem Markenzeichen der Webguerilla Anonymous. Sein Anliegen damals: die immensen Studiengebühren in Großbritannien senken. Fieldhouse glaubte, Occupy könne mehr soziale Gerechtigkeit schaffen, nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für die Gesellschaft. Mittlerweile ist er nicht mehr politisch aktiv und hat auch zu seinen Mitdemonstranten keinen Kontakt mehr. „Die Leute interessieren sich nicht mehr für Themen wie Bankenkritik oder Arbeitslosigkeit“, sagt er.

Wolfram Siener, derjenige, der der deutschen Occupy-Bewegung sein Gesicht gab, findet: „Der Einzige, der von Occupy profitiert hat, ist David Graeber.“ Der Ethnologie-Professor und Buchautor bereitete die Proteste in New York vor. Seither verkauft er erfolgreich seine Bücher über Anarchismus und Schulden. Doch die weltweite Bewegung ist in Sieners Augen traurig untergegangen. Die Zeltlager lösten sich nach und nach auf oder wurden von der Polizei abgerissen, gegen den Willen der Demonstranten, die sich mitunter vehement wehrten. Auch gab es untereinander Streit: dass Siener selbstbewusst vor den Medien auftrat, behagte vielen im Frankfurter Camp nicht, weil sie eine Führungsfigur ablehnten. Das vermutlich letzte Occupy-Zeltlager in Tel Aviv verschwand im Januar 2014.

Was danach blieb, ist das bekannte Label: „Occupy“ ist heute eine Protestmarke geworden, deren Name und Form immer wieder andere Bewegungen aufgreifen. Etwa 2013 „Occupy-Gezi“ in Istanbul oder 2014 „Occupy Central with Love and Peace“ in Hongkong. Die Nuit-Debout-Bewegung in Frankreich, die im März 2016 als Demonstration gegen eine Arbeitsrechtsreform begann, setzt wie Occupy auf Protestveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen und besteht auch aus einer heterogenen Gruppe von Studenten, Arbeitern und Familien, die eine Politik fordert, die sich weniger am Wettbewerb und mehr an den Bedürfnissen der Schwächsten orientiert.

Einige der Aktivisten engagieren sich jetzt bei „Debt Collective“

Denn längst nicht alle einstigen Occupy-Aktivisten haben sich wie Elliot Fieldhouse und Wolfram Siener vom politischen Engagement verabschiedet: Aktivisten aus dem Ursprungslager im New Yorker Zuccottipark beispielsweise engagieren sich im „Debt Collective“, einer Organisation, die aufzeigt, wie viele Menschen unter Schulden leiden, und Streiks oder andere Aktionen dagegen organisiert. Viele Ideen der „99 Prozent“ kanalisieren sich wieder dort, wo sie auch vor und während Occupy schon waren: in der Politik. Wie bei Bernie Sanders, der für die Demokratische Partei als Bewerber um die US-Präsidentschaftskandidatur antrat. Wie bei den von Occupy inspirierten Parteien Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland.

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Occupy Ursprungslager im New Yorker Zuccottipark  (Foto: Jan-​Christoph Hartung)

Im New Yorker Zuccottipark fing alles an

(Foto: Jan-​Christoph Hartung)

Bei den Protesten der 68er war es ähnlich: Sie konnten zunächst politisch wenig erreichen. Mittelfristig aber kreierten Hippies und Studentenbewegung mit Konsumkritik und Aussteigertum eine Alternativkultur. Und 30 Jahre später, 1988, trat mit den Grünen eine Partei in die deutsche Bundesregierung ein, deren Wurzeln in den sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre liegen. Das ist nur eines von vielen Beispielen, wie die 68er nachfolgende Generationen und die Politik beeinflusst haben.

Vielleicht auch deshalb hofft Wilhelm Decker weiter auf ein Comeback von Occupy. „Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut“, sagt er. Auch Graeme Maxton, der Chef des Club of Rome, einer Denkfabrik für Nachhaltigkeit, forderte kürzlich eine zweite Occupy-Bewegung. Im Interview mit dem „Greenpeace-Magazin“ erklärte er, er halte das Wirtschaftssystem für „verfault“.

Das nächste Mal besser konkrete Lösungsansätze liefern

Eigentlich hätten Occupier aus ihrer Sicht heute tatsächlich allen Grund, erneut zu demonstrieren: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über mehr Vermögen als der Rest der Welt, zeigt eine Analyse der Bank Credit Suisse. Die Managergehälter sind der Beratungsagentur HKP zufolge so hoch wie noch nie. Investitionen von Unternehmen in Steuerparadiesen haben sich zwischen 2000 und 2014 vervierfacht. „Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen“, urteilt die Organisation Oxfam im Januar 2016. All diese Punkte hat Occupy 2011 schon kritisiert. Dazu kommt, dass mit einer Quote von 18 Prozent 25- bis 35-Jährige in Deutschland überdurchschnittlich von Armut bedroht sind. Ein Grund hierfür könnte sein, dass zum Beispiel befristete und Teilzeitarbeitsverhältnisse im Vergleich zur Elterngeneration stark zugenommen haben.

Bei einem Neuanfang von Occupy würde sich Wolfram Siener heute jedenfalls, wenn überhaupt, dann „nur noch anonym beteiligen, und in einem Kernteam von maximal 50 Personen, die sich vorher ganz genau überlegen, was sie erreichen wollen“. Den fehlenden Fokus der Bewegung sieht Elliot Fieldhouse rückblickend auch als ein großes Problem von Occupy. „Man braucht beim nächsten Mal unbedingt ein Manifest“, findet er. Dafür müssten Occupier ihre Ansprüche zurückschrauben und mit kleinen, klaren Forderungen und Lösungsvorschlägen anfangen. „Das greifen Politiker eher auf als eine reine Kritik am System.“

Titelbild: Jan-Christoph Hartung