Nava Ebrahimis Debütroman „Sechzehn Wörter“ ist in sechzehn Kapitel unterteilt. Jedes ist mit einem Wort überschrieben, auf Persisch und in deutscher Umschrift. Diese Wörter aus ihrer Kindheit überfallen Mona, die in Köln lebende und im Iran geborene Heldin des Romans, plötzlich. Es sind Wörter, die Monas Großmutter benutzt. Wörter, die das Familiengeheimnis schützen: „Im Unübersetzten hatte der Schwindel es sich herrlich einrichten können.“ Denn was geschah, als die Großmutter ihre erst dreizehn Jahre alte Tochter einem Mann gab, findet Mona erst am Ende des Romans heraus, nach einer langen Reise in das Land ihrer Eltern, bei der man viel über Deutschland und noch mehr über den Iran und das Leben in zwei Kulturen erfährt.

Fluter.de: Welches von den sechzehn ist Ihr Lieblingswort?

Nava Ebrahimi: Ich fand immer das persische Wort für Kreuzung am faszinierendsten: „Tschahar-Rah“. Übersetzt heißt das: „Vierweg“. Im Deutschen treffen sich zwei Straßen, das ist relativ technisch. Im Persischen betont man dagegen, dass das ein Ort ist, an dem man vier Möglichkeiten weiterzugehen hat. Perser kommen besser mit Mehrdeutigkeiten zurecht.

Sie sind in Teheran geboren, Ihre Eltern sind mit Ihnen nach Deutschland gekommen, als Sie noch klein waren. Haben Sie mit ihnen in Deutschland persisch gesprochen?

Ja, aber wir haben schnell angefangen, deutsch zu reden. Die ersten persischen Wörter, die ich noch vor dem Roman ohne Ziel aufzuschreiben begonnen habe, sind autobiografisch geprägt gewesen. Aber als ich die Handlung entwickelt habe, ist die zweite Hälfte der Wörtersammlung aus der Notwendigkeit der Handlung entstanden.

Darunter ist auch das Wort „Kos“, das Fotze bedeutet.

Ich habe mich noch nicht mal getraut, so ein Wort zu googeln. Es ist deswegen im Buch auf Persisch falsch geschrieben. Ich habe meiner Babysitterin, die auch persisch schreiben kann, alle Wörter vorgelegt, um die Schreibweise zu überprüfen, aber bei „Kos“ habe ich mich nicht getraut.

In Deutschland haben viele vom Iran das Bild eines sehr konservativen Landes, in dem die Frauen gezwungen werden, in der Öffentlichkeit Kopftuch zu tragen. Die Großmutter Ihrer Protagonistin Mona spricht jedoch sehr offen über Sexualität.

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Nava Ebrahimi: „Sechzehn Wörter“. Bbt, München 2017, 320 Seiten, 18 Euro

Nava Ebrahimi: „Sechzehn Wörter“. Bbt, München 2017, 320 Seiten, 18 Euro

Es herrscht dort ein ganz anderer Umgang mit Sexualität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Ich bin schon von klein auf damit konfrontiert worden, dass an dem Ort, wo ich herkomme, alles düster und lustfeindlich sei. Ich dachte immer nur: Nein, das stimmt nicht! Ihr solltet mal meine Oma erleben, die hat mehr Spaß als eine Clique von siebzehnjährigen Mädchen auf dem Weg zur Disco.

Wie äußert sich das?

Als ich das erste Mal im Iran war, gab es jeden Abend Party. Weil sich die gesamte Familie wegen des Besuchs versammelt. Manchmal kommen nur Frauen, weil es ein, zwei Frauen in der Familie gibt, die ihr Kopftuch nicht so gern vor anderen Männern abnehmen. Bei einer solchen Frauenparty habe ich erlebt, wie alle tanzen und irgendwann die ersten eine Art Striptease machten. Die Sprüche der Oma aus meinem Buch stammen allesamt von meiner Großmutter. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beziehung Monas zu ihrem Vater. Es ist typisch für das Leben im Exil, dass die Kinder besser ankommen und ihren Weg gehen und die Eltern dabei zurücklassen müssen, was sehr traurig ist.

Das ist eine Geschichte, mit der sich viele Menschen in Deutschland heute identifizieren können.

Ja, vor allem aber die Iraner, die in den 1980er-Jahren nach Deutschland gekommen sind. Das waren anfangs die eher gut Ausgebildeten. Viele, nicht nur die Väter, oft auch die Mütter, hatten studiert und gute Jobs im Iran. In Deutschland war diese Ausbildung aber nichts wert, und so mussten die Kinder dabei zusehen, wie die Eltern in einem Loch aus Traurigkeit und Bedeutungslosigkeit verschwanden.

Ist das ein großes Problem für diese Generation?

Ich kenne viele solcher Geschichten. Heute bemüht man sich in Deutschland mehr darum, die Abschlüsse von Menschen anzuerkennen, die ins Land kommen, und sie zu integrieren. Das war damals noch anders. Viele Iraner haben Restaurants aufgemacht, einen Kiosk, ein Teppichgeschäft oder wurden Taxifahrer.

Die Großmutter aber ist neben Mona die zentrale Figur des Romans. Sie ist sehr liberal und macht sich über ihre Enkelin Mona lustig: Warum hat sie nur einen Verehrer? Sie lebt doch in „Azadi“. Was heißt „Azadi“ genau?

Freiheit. Der Westen ist für die Großmutter gleich Freiheit. Iraner denken oft, im Westen hätten alle ständig Sex. Gerade was die Sexualität angeht, ist der Iran wie ein Topf mit einem geschlossenen Deckel. Darin brodelt es. Die Iraner können sich nicht vorstellen, wie es ist, ohne diesen Deckel zu leben. Ich war zwei Monate lang selbst in einem iranischen Mädchenpensionat. Ich wurde ständig gefragt: „Wie sind die deutschen Männer?“ Es dreht sich alles um dieses Thema.

„Azadi“ ist auch ein politischer Begriff, der sich gegen das theokratische autoritäre Regime im Iran richtet: Da meint er Freiheit als bürgerliche Freiheit.

Das Wort ist für viele Iraner inzwischen mit einer großen Bitterkeit belegt. Nach den enttäuschenden Amtszeiten der reformorientierten Präsidenten Khatami und jetzt Rohani, nach der Niederschlagung der Grünen Bewegung im Jahr 2009, nach all dem Leid und Chaos, das der Arabische Frühling gebracht hat, verheißt „Azadi“ nicht mehr dasselbe wie noch vor zehn Jahren. Die Iraner, die jetzt auf die Straße gegangen sind, streben nicht nach „Azadi“, sie haben viel existenziellere Nöte. Sie verlangen, ihre Kinder und sich selbst einigermaßen würdevoll versorgen zu können. Das Projekt „Freiheit“ ist auf unabsehbare Zeit verschoben.

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Nava Ebrahimi (Foto: Katrin Ohlendorf)

Nava Ebrahimi

(Foto: Katrin Ohlendorf)

Mona hat einen deutschen Freund. Er ist ordentlich, aber kein Mensch, der in vollen Zügen lebt.

Er ist ein bisschen übersättigt, ja. Er zeigt eine Gleichgültigkeit, die verhindert, etwas zu wagen, sich für etwas ins Zeug zu legen. Es gibt eine Szene im Buch, in der Mona ihren Freund zum ersten Mal mit nach Hause nimmt. Er schläft auf dem Sofa ein, nachdem er sich den Wecker gestellt hat, weil er morgens ins Fitnessstudio gehen will. Das würde kein Iraner verstehen, dass es so etwas geben kann.

Ein Pendant zu Monas Freund ist die Mutter einer Freundin der noch kleinen Mona. Sie glaubt, dass es im Iran ein „hinterwäldlerisches“ Frauenbild gibt. Sie ist selbst zwar aufgeklärt, aber in Wirklichkeit auch ziemlich verklemmt.

Ich war mir beim Schreiben gar nicht bewusst, dass diese Stelle so gelesen werden kann, wie das oft beim Schreiben ist. Aber es stimmt schon, das kann man so sehen. Der Iran ist auch in dieser Hinsicht paradox. Die Großmutter sagt immer zu Mona: „Wenn die Kos etwas zum Herzeigen wäre, dann wäre sie nicht zwischen den Beinen versteckt, sondern auf der Stirn.“ Das erzählt Mona ihrer Freundin. Deren Mutter ist Feministin und verbietet der Tochter fortan den Umgang mit Mona, weil dieser Spruch frauenfeindlich sei. Der deutsche Umgang mit Sex ist sehr rational, dadurch auch sehr humorlos und unsinnlich. Praktisch und bürokratisch.

Die Reaktion dieser Mutter scheint mir typisch zu sein: Man sieht nur die Oberfläche, aber nicht das, was hinter den Türen passiert. Und man sieht natürlich seine eigenen blinden Flecken nie.

Man muss aber auch sagen: Der sehr freizügige Umgang der Großmutter mit Sexualität hat auch etwas Bigottes. Die Oma scheut sich nicht, deftig zu sein. Das ist aber nur das Recht der Älteren, Verheirateten. Und die Situation ändert sich sofort, sobald ein Mann im Raum ist. Man kann den Orient nicht verstehen, wenn man sich nur auf einzelne Aspekte konzentriert. Man muss ihn als Ganzes verstehen.

Titelfoto: Nazanin Tabatabaee Yazdi/Polaris/laif